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nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 46
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Bücher
Eine dunkle Zeit bekommt ein Gesicht
Der Fall bleibt unabgeschlossen: Robert Schumann in Endenich
Robert Schumann in Endenich (1854–1856) – Krankenakten,
Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte, hrsg. v. Bernhard
Appel für die Akademie der Künste Berlin und die Robert-Schumann-Forschungsstelle
Düsseldorf (Schumann Forschungen, Bd. 11), Schott-Verlag, Mainz
2006, 607 S., € 34,95, ISBN 3-7957-0527-4
Wohl kaum ein Musiker hat einen so dankbaren Lebensroman abgegeben
wie Robert Schumann. Er vor allem gehört zu den Komponisten,
denen das zweifelhafte Vergnügen zuteil geworden ist, mehr
biographisches als musikalisches Interesse geweckt zu haben. 150
Jahre Schumann-Rezeption sind in dieser Hinsicht durchaus ernüchternd:
Nicht nur, dass das Spätwerk einer förmlichen „Rehabilitierung“
bedarf – nach wie vor geistert der „ewige Jüngling“
durch Biographien und Konzertprogramme – nicht nur, dass die
1991 initiierte, historisch-kritische Ausgabe der Kompositionen
noch immer im Aufbau begriffen ist – eine überbordende
Erinnerungsliteratur der mehr belletristischen Richtung hat sich
zudem mit nicht nachlassender Faszination den immer gleichen Themen
zugewandt, obwohl oder gerade weil die Quellenlage dürftig
und unklar ist: „Schumann in Endenich“ zum Beispiel.
Aus Pietät gegenüber dem tragischen Lebensausgang des
Komponisten hat die seriöse Forschung dieses Thema bereits
im 19. Jahrhundert den Medizinern, Psychologen und Psychiatern überlassen.
Eine freiwillige Selbstbeschränkung, deren Ende definitiv gekommen
ist.
Pünktlich zum 150. Todestag hat eine Herausgebergemeinschaft
aus Akademie der Künste Berlin und Schumann-Forschungsstelle
Düsseldorf einen gediegenen 600-Seiten-Band vorgelegt.
Flankiert von medizinhistorischen Stellungnahmen und einem umfangreichen
Abbildungsteil bringt die Dokumentation neben Briefen und Zeitzeugenberichten
den bisher nur in Auszügen zugänglich gewesenen Krankenbericht
über Schumanns Endenicher Klinikaufenthalt. Zwischen März
1854 und Juli 1856 haben die behandelnden Ärzte Befinden und
Verhalten ihres prominentesten Patienten akribisch protokolliert.
„17. April 1854 – Gesichtsausdruck befangen, starr,
abwesend, auch grimassirend, die Lippen wie im Gespräch bewegend.
Der Kopf sei ihm schwer. [...] Nach dem Clystier 10–12 Knöllchen
Ausleerung. Sagte gestern, es sei zu still in seiner Umgebung.“
Jahrzehntelang befand sich dieses Dokument im Besitz des Berliner
Komponisten Aribert Reimann. In Güterabwägung zwischen
Bindung ans Arztgeheimnis einerseits, Aufklärungsinteresse
andererseits, hat der Erbe einer zentralen Schumann-Archivalie schließlich
einer Veröffentlichung zugestimmt. Unter die „Spekulationen,
Verleumdungen und abenteuerlichen Erfindungen“ zu Schumanns
Endenicher Zeit müsse endlich, so Reimann, ein „Schlussstrich“
gezogen werden.
Dass er das Schweigegebot gebrochen hat, ist ihm nicht leicht gefallen.
Getröstet wurde Reimann mit einer schönen Idee des Herausgebers
Bernhard Appel. In großer Gewissenhaftigkeit hat dieser eine
Art Tagebuch kreiert, in dem neben den Ärzten, der Ehefrau,
den Freunden und der zeitgenössischen Publizistik auch der
Komponist selbst zu Wort kommt. Bis in die mehr als eintausend Fußnoten
ist alles sorgfältig ediert, behutsam kommentiert. Auf buchstäblich
jeder der 600 Seiten wird das Interesse spürbar, Sachlichkeit
in ein hochemotionalisiertes, skandalisiertes Thema hineinzutragen,
der „Spekulationsdynamik“, so Appel, den Wind aus den
Segeln zu nehmen, Fakten an die Stelle von Fiktionen treten zu lassen.
Entstanden ist eine Publikation, die trotz ihres staubtrockenen
Titels zum Bewegendsten gehört, was man in den letzten Jahren
über und zu Schumann lesen konnte. Erstmals bekommt eine vermeintlich
im permanenten Dunkel geistiger Umnachtung liegende Zeit ein Gesicht,
eine Geschichte. Deutlich wird: Das abdriftende Ich des Künstlers
erreicht vor allem im ersten Jahr immer wieder Inseln der Gesundung.
Mit Hoffen und Bangen nimmt man zur Kenntnis, wie Schumann zu musikalischer
Betätigung findet, am Klavier improvisiert, mit Brahms vierhändig
spielt, am Musikleben teilnimmt, mit Verlegern korrespondiert und
wie er komponiert. Letzteres allerdings relativieren, bagatellisieren
die Irrenärzte zum bloßen „Notenschreiben“.
„Schumanns Seelenadel“ gilt ihnen, so die psychiatriekritische
Besucherin Bettina von Arnim, als „Zeichen seiner Krankheit“.
Andererseits – auch die Kollegen vom Fach, auch Clara, auch
Brahms und Joachim betrachten Schumanns Endenicher Kompositionen
mit Skepsis. Die allgemeine Tabuisierung, ja Dämonisierung
der geistig-seelischen Erkrankung im 19. Jahrhundert tut ihre Wirkung.
Eine Welt, die peinlich zwischen „gesund“ und „krank“,
zwischen „Wahn“ und „Wirklichkeit“ unterscheidet,
sieht sich verstört. „Schumann in Endenich“ wird
zur Projektionsfläche für die Angst, selbst vom depressiven
Sog erfasst zu werden und unterzugehen.
Ernsthaft wollte denn auch kaum jemand zur Kenntnis nehmen, dass
Schumann lange Zeit voller Hoffnung und Selbstbehauptungswillen
ist. „4. Februar 1855 – Gestern und heute gut gestimmt.
Bei der Morgenvisite ungehalten, es gehe schlecht, wolle fort, sey
Künstler, sey an ein ganz anderes Leben gewöhnt.“
Erst ab Mitte 1855 wird Schumanns Aufenthalt, freilich auch als
Folge der Hospitalisierung, quälend. Bald ist der Verfall nicht
mehr aufzuhalten. Schumanns Tod am 29. Juli 1856 „um 4 Uhr
nachmittags“ bringt nur für ihn die Erlösung. Der
Blick der Zurückgebliebenen bleibt unfrei. Einer Reihe von
Kompositionen, die in Endenich oder im Umfeld von Endenich entstehen,
erteilt Clara Schumann Publikationsverbot. Manches andere wie Schumanns
„Cello-Romanzen“ oder seine Fugenkompositionen verschwinden
sogar auf Nimmerwiedersehen.
Es gehört zu den Vorzügen dieser Publikation, dass all
dies vorbehaltlos auf den Tisch gelegt wird. Herausgeber Bernhard
Appel hält sich strikt ans Dokumentationsprinzip: Alles offenlegen,
nichts bewerten. Dass am Ende, wenn der Vorhang zugezogen wird,
manche heiß diskutierte Frage ungeklärt bleibt (etwa
die nach der exakten Diagnose von Schumanns Erkrankung), mag man
verschmerzen. Schizophrenie? Paralyse? Was liegt daran!? –
Denn was diese Dokumentation zu einem Glücksfall der Schumann-Forschung
macht, ist gerade das Vermeiden von Thesenbildungen. Angesichts
des Banns, der über Schumann verhängt wurde, erscheint
die Mischung aus Faktenfülle und Urteilsabstinenz als ungemein
glückliche Strategie. Man spürt: „Schumann in Endenich“
bleibt so lange ein unabgeschlossener, unausgestandener Fall, bis
unser Blick auf ihn aufhört, angstbesetzt, pathologisierend
zu sein.
Natürlich lässt sich einer strikt biographiehistorisch
ausgerichteten Dokumentation schlecht vorwerfen, keine musikalischen
Fragen zu verhandeln. Andererseits nährt ein Monument wie das
hier vorgelegte die Hoffnung, dass damit der schlechten Spekulation
um „Schumann in Endenich“ das Wasser abgegraben ist.
Dann nämlich könnte (endlich möchte man sagen) die
Energie aufs Musikalische gehen – aufs ganze Werk, versteht
sich.