Wer glaubt, zum Thema „Üben“ sei angesichts der
zahlreichen Veröffentlichungen zur Problematik längst
alles gesagt, der irrt. Er studiere die Beiträge zu Problemen
des Übens der 414 Seiten umfassenden Publikation und erprobe
die von Experten empfohlenen zahlreichen praxisnahen Anregungen.
Der Untertitel des Buches „Grundlagen – Konzepte –
Methoden“ lässt Unterschiedliches erwarten. Dem Charakter
eines Handbuches als systematische Zusammenfassung eines Themas
entsprechen Beiträge, die ein Problemfeld auf der Grundlage
vorhandenen Wissens aufbereiten, in Einzelfällen gar Ansatzpunkte
zur Weiterentwicklung der Übethematik bereithalten. Konzepte,
im Sinne von noch auszubauenden Entwürfen zu einem begrenzten
thematischen Teilbereich, geben Impulse zur Neuorientierung. Der
Funktion eines Handbuches im Sinne von Gebrauchsanleitung werden
jene Beiträge gerecht, die Hinweise für die praktische
Umsetzung von Übungsvorschlägen geben; dies jedoch nicht
im Sinne vorgefertigter Regeln, deren Befolgen allein schon den
Erfolg zu garantieren verspricht, sondern vielmehr in der Art vorsichtig
formulierter Handlungsanweisungen auf der Basis theoretisch fundierter
Aussagen. In allen Aufsätzen ist der Wille spürbar, den
praktizierenden Musiker mit seinen Übeproblemen nicht alleine
zu lassen. Der Herausgeber skizziert in seinem Eröffnungsbeitrag
„Was ist Üben?“ Übebiographien einiger Studierender,
die einen Einblick in verschiedene Formen des Übens gewähren.
In der zusammenfassenden Übersicht unterschiedlicher disziplinärer
Ansätze zu einer Theorie des Übens arbeitet er den individuellen
Selbstfindungsprozess eigenen Übeverhaltens und unterschiedliche
Übekulturen heraus.
Dieser Kerngedanke persönlicher und offensichtlich auch sozial
determinierter Übepraktiken kehrt immer wieder, so etwa bei
Michael Dartsch zum Üben im Vorschul- und Grundschulalter,
bei Horst Hildebrandts Beitrag zur Prävention von Spiel- und
Gesundheitsproblemen, aber auch in Eckart Altenmüllers Aufsatz
zu den neurobiologischen Grundlagen des Übens. Der Autor rät
dankenswerterweise zur Vorsicht bei der Übertragung neurobiologischer,
auch sportwissenschaftlicher Erkenntnisse in praktische Handlungsanweisungen.
Dass bei der Betrachtung motorischer Automatisierungsprozesse beim
instrumentalen Üben immer auch die kognitiven und musikalischen
Aspekte zu berücksichtigen sind, bekräftigt Marion Saxer
in ihrer Darstellung der Ergebnisse der Motorikforschung. Während
beim Sport das Erlernen einer motorischen Fähigkeit gleichzeitig
das erwünschte Ziel darstellt, sind für die musikalische
Arbeit Spielbewegungen ein notwendiges, aber nicht ausreichendes
Mittel für die Interpretation von Musik. Offenkundig wird das
Problem bei der Frage nach dem Zusammenhang von Üben und Musizieren,
einer Frage, der Christoph Richter dialektisch nachgeht, ausgehend
von der Interpretation der Sonate für Klavier und Violine,
KV 454. Besonders sympathisch finde ich Ansätze, die beim Üben
dem Musikalischen Raum geben. Dies gilt auch für die Nutzung
intuitiver Potentiale, für die Volker Biesenbender plädiert.
Inwieweit technische Perfektion und musikalischer Ausdruck in einem
angemessenen Verhältnis zueinander stehen, darüber entscheidet
letztlich die Interessenlage der zu Unterrich-tenden: Das Üben
von Solisten und Profimusikern ist sicher anders zu bewerten als
das von Laienmusikern.
Dass der Sprachstil je nach Betrachtungsweise des vielschichtigen
Phänomens „Üben“ fachspezifisch unterschiedliche
Leseanstrengungen erfordert, zeigt der philosophisch orientierte
Beitrag von Renate Wieland zum „mimetischen Üben“.
Leichter fassbar sind die didaktischen Überlegungen, beispielhaft
mit Aufgabenstellungen versehen von Anselm Ernst („Didaktik
des Übens“), Gerhard Mantel („Üben und Sprechen“)
und Wolfgang Rüdiger („Üben im Ensemble“).
Almut Süberkrüb setzt sich mit der Rolle des Übens
im Zusammenhang mit der musikalischen Lerntheorie E. Gordons auseinander.
Wer Improvisation lediglich als Spiel aus dem Augenblick heraus
versteht, wird den Gedanken, Improvisation sei erlernbar, weit von
sich weisen. Aber auch weit gefehlt: Üben von Improvisation
ist Üben des Gehörs und des Gedächtnisses (Herbert
Wiedemann). Überhaupt vertraut die aktuelle Instrumentaldidaktik
stärker, als vielfach im Unterricht genutzt auf das Spiel ohne
Noten. Sie setzt auch auf mentales Training (Christian A. Pohl)
und bezieht den imaginären Zuhörer als Kontrollinstanz
des Übenden ein (Wolfgang Lessing). Der Beitrag zum Umgang
mit Fehlern von Peter Röbke korrigiert die gängige Auffassung,
Fehler seien lediglich als Ergebnis des eigenen Versagens zu betrachten.
Abgeschlossen wird das Handbuch mit einer Diskussion des Herausgebers
mit H. Görtz, A. Müller und B. Schmieden über Körperübungen
zur Intensivierung der Wahrnehmung mit allen Sinnen.
Vorrangiges Ziel des Handbuchs ist die Reflexion und Verbesserung
der Praxis des Übens. Diesem Anspruch wird die Publikation
voll gerecht. Vielleicht gelingt es beim Befolgen der Ratschläge,
dass Üben nicht nur mühsame Arbeit, sondern auch jene
von Andreas Burzik beschriebenen beglückenden Momente selbstvergessenen
Eintauchens und Aufgehens in einer unabdingbaren Aufgabe ermöglicht
und gelegentlich das befreiende Gefühl der Anstrengungslosigkeit
vermittelt.