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nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 42
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Rezensionen-CD
Pop-Tore zur Weltmeisterschaft
Der Ball rollt, die Künstler passen – die aktuellen
CDs zur WM
Mau sieht es aus im Jubelmonat Juni. Die künstlerischen Energien
verpuffen mit André Heller im WM-Wahn und so muss man tief
in die Kiste greifen um halbwegs vernünftige Veröffentlichungen
der Phonoindustrie zusammen zu kratzen. Wohlgemerkt Platten, die
über Halbzeithits hinausgehen.
Spoon Records läuft da mit einer ordentlichen Aufstellung
zur Hochform auf. Wie schon angekündigt gibt es Ende Juni 2006
den dritten und letzten Block aus dem insgesamt 14 Alben umfassenden
„Remastering“- Gesamtwerk von CAN. Freilich wurden die
verbleibenden fünf Alben der „Remaster“- Serie
in SACD Klangqualität und mit dem Original Cover-Artwork gestaltet.
Ein Endspielzuckerl: Die Booklets – auch Innenheftchen genannt
– erfreuen mit unveröffentlichten Fotos. Exakt handelt
es sich um die Alben „Flow Motion“ (1976), „Saw
Delight“ (1977), „CAN“ (1979), „Delay 1968“
(1981) und „Rite Time“ (1989). Die Hybrid-Version der
SACD ist auf jedem handelsüblichen CD Player und SACD kompatiblen
DVD Playern abspielbar.
Der letzte Cowboy dieser Erde sitzt mit dem Amerikaner Luke Temple
im Sattel. „Hold a match for a gazoline world“ nennt
er sein Werk augenzwinkernd, doch verbrennen kann man sich kaum,
denn das Album glüht endlos. Temple beginnt mit Bluesgrass,
hält ein beim Folk-Trog, wechselt fulminant zum Songwriter-Rock
und lässt wenig Zweifel aufkommen, dass er sich im Country
wohlfühlt. Elf Mal suhlt er sich in vergessenen Songs, rudert
zurück in die Vergangenheit und überzieht die Steppe mit
einer elegischen Stimmung. Elliott Smith oder Belle & Sebastian
stehen da oft Spalier.
Die legendäre Memphis Soul Künstlerin Ann Peebles veröffentlicht
nach zehn Jahren Halbzeit tatsächlich ein Album. „Brand
New Classics“ bietet zwar nichts Neues, denn zu hören
sind nur ihre besten Songs plus einige ihrer persönlichen Lieblingssongs
(Rolling Stones, Eric Clapton, Foreigner). Doch alle Achtung, was
nach wie vor in dieser Stimme liegt und steckt. Alle Songs wurden
live in einem Take aufgenommen; das lass mal die Rasselbande von
Tokio Hotel versuchen. Mitgewirkt haben bei den Aufnahmen übrigens
die sagenhafte Hi-Rhythm-Section und die Memphis-Horn-Section. Skeewiff
aus London tollen förmlich über den Rasen. „Private
Funktion“ ist das dritte Album der Band, gereicht wird Musik
zum Cocktail. Viel Tanz, viel Beat, viel Eleganz. Zwar wirkt das
Album oft distanziert und kühl, allerdings blicken Skeewiff
mit einer unverschämten Lässigkeit über den Tellerrand
und bringen Soul, Dancefloor oder Funk nicht ungeschickt mit ins
Spiel. Eine unverfängliche Atmosphäre wird so kreiert
und warm gehalten. Dass das Album letztendlich nun eher für
„in“-Kneipen oder Möchtegerne- Bars zu taugen scheint,
kann man Skeewiff selbst ja nicht zum Vorwurf machen. Das Publikum
bekommt, was es verdient.
Ein Geheimfavorit auf den Titel aller Titel schält sich mit
der einheimischen Combo Samba aus der Lederhaut. Entsprechend weitsichtig
haben sie ihr Album „Himmel für alle“ getauft.
Dem kann man folgen. Fast jeder Refrain landet – reden wir
mal pathetisch im Himmel. Davor gibt es präparierende Strophen,
anmachende Choruse und ein Indiepoprock-Paket, das groß zu
werden droht. Die Gesamtatmosphäre reicht eindeutig bis zu
Kettcars letztem Werk „von spatzen und tauben, dächern
und händen“. Samba knüpfen geschickt Erzählfäden,
ketten ihre Songs aneinander, bleiben gelassen doch angenehm aufgekratzt.
Sie reduzieren sich selbst, schieben die Aufmerksamkeit ihren Songs
zu und verpassen sich so das bisher beste Album der Bandgeschichte.
Weiter so.
„The American Led Zeppelin“ nannte man Cactus zu Beginn
der 70er. Große Worte, die knapp 30 Jahre später nicht
zwingend überprüft werden müssen, denn „V“,
logischerweise das fünfte Album der Herren Carmine Appice,
Tim Bogert, Jim McCarty und Rusty Day beweist, dass zumindest die
grobe Richtung noch stimmt. Blues- und rifforientierter Hardrock
bildet das Gerüst, eine durch Erfahrung erworbene Klasse im
Songwriting tut ihr Übriges. Das Album läuft klassisch
durch, hat keine Hänger, ist kurzweilig und vermittelt ungehemmte
Spielfreude, die nicht in Selbstbeweihräucherung endet. Led
Zeppelin wäre sicher nicht stolz. Aber angetan. Etwas un-glamouröser
werkeln die Kanadier The Marble Index an ihrem Album „The
Marble Index“ herum. Zwar verspricht der Bandname doch ein
wenig Geheimnisvolles und eventuell sogar einen Umsturz vorhandener
Musikwerte, doch diese zarte Hoffnung wird nach drei Songs als „Übersteiger“
entlarvt. Kein schnöder, aber doch unaufgeregter Britpop ist
von The Marble Index zu vernehmen. Man gesellt sich zu Bands wie
The Libertines, Dirty Pretty Things, The Hives, The Streets und
wie sie alle heißen. Sicher fährt das Trio aus Ontario
einen forschen Sound. Die Gitarren knurren, der Bass vollstreckt,
doch immer wieder kommen plakative Elemente der 60er ins Spiel.
Das verdünnt die Suppe, obwohl das Gesamtalbum dann schon noch
als angenehm auffällt und nicht so auf dicke Hose macht wie
andere 60er Epigonen.
Völlig unorthodox geht Lea Finn mit „Finnland“
in den Zweikampf. Sie fordert den Hörer quasi auf, wieder Musik
zu hören. Nicht vorbei zu hören. Schnell könnte man
aufgeben, weil ihre Songwritermusik zunächst nicht bleiben
will. Man sucht nach popverwandten roten Fäden, findet aber
keine. Und dann lässt man sich auf das Spiel ein, weil Lea
Finn Spannung erzeugt und Entdeckergeist fördert. Anspruchsvoll
klingt fast abweisend, doch „Finnland“ muss man sich
erobern. Zwölf Perlen gilt es so zu entdecken. Sicher im Popterrain
zu finden, doch keineswegs gleichgültig oder beliebig hingeschmiert.
Nein, Lea Finn schlägt eine Brücke zwischen neuem Pop
und altem Pop. Oft überraschend arrangiert, aber liebevoll.
Ein klarer Sieger.
Sven Ferchow
Diskographie
CAN – Flow Motion (Spoon Records, 23.6.2006)
CAN – Saw Delight (Spoon Records, 23.6.2006)
CAN – CAN (Spoon Records, 23.6.2006)
CAN – Delay 1968 (Spoon Records, 23.6.2006)
CAN – Rite Time (Spoon Records, 23.6.2006)
Ann Peebles – Brand New Classics (Track Record, 23.6.2006)
Skeewiff – Private Funktion (Jalapeno Records, 14.7.2006)
Samba – Himmel für alle (Tapete, 14.7.2006)
Cactus – V (Escapi Music, 28.7.2006)
The Marble Index – The Marble Index (HighCoin, 28.7.2006)
Lea Finn – Finnland (SonyBMG, 18.8.2006)