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nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 41
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Rezensionen-CD
Europäische Kammermusik des Fin de Siècle
Die Musik einer Zeitenwende auf CDs aus jüngster Zeit
Schönbergs Streichsextett ,,Verklärte Nacht“ von
1899, sein erstes Meisterwerk, zieht musikalisch Bilanz und verkörpert
idealtypisch den Geist jener Jahrhundertwende. Der Ausdruck „Fin
de Siècle“ deutet mehr an als nur den bevorstehenden
kalendarischen Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert, nämlich
das baldige Ende des romantischen Zeitalters und damit den Verfall
einer im Grunde seit 100 Jahren gültigen Musizierhaltung. Im
deutschsprachigen Raum wird dieser Paradigmenwechsel politisch durch
den Untergang der Wilhelminischen Ära und der habsburgischen
Donaumonarchie in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs
markiert.
Das Trio Jean Paul steift nun erstmals Eduard Steuermanns viel
spätere Bearbeitung für Klaviertrio zur Diskussion, welche
gegenüber dem Original die strukturelle Seite der den Zeilen
eines Dehmel-Gedichtes folgenden Programmmusik betont: Der 25-jährige
Schönberg hat mit dem halbstündigen Einsätzer die
vollkommene Synthese aus Wagner’scher Harmonik und Brahms’scher
Formbildung geschaffen; auf der CD ist das Werk sinnreich mit der
seltenen Originalfassung von Brahms’ Klaviertrio H-Dur op.
8 von 1854 gekoppelt. Leider greift die seltsame Unsitte, kammermusikalische
und konzertante Kompositionen auf einer CD zu kombinieren, weiter
um sich. Auf diesem Wege kommen wir immerhin in den Genuss von Busonis
wichtigsten, jedoch kaum gepflegten Violinwerken in neuen Referenz-Interpretationen:
Die 2. Violinsonate von 1900, die der 34-jährige Busoni privat
als sein eigentliches op. 1 bezeichnete, kommt rein formal als Suite
daher, und wer bisher nur den Verfasser haarsträubend dicht
gearbeiteter Klaviermusik kannte, den wird der alles Überflüssigen
abholde, lichtdurchflutete Charakter der Sonate angenehm überraschen.
Wie nebenbei erweist sich der angenehm Publicityscheue Frank Peter
Zimmermann einmal mehr als einer der wichtigsten Geiger seiner Generation.
Ähnliches ließe sich von Christoph Schickedanz behaupten,
der sich vor allem im Duo mit Bernhard Fograscher als eminenter
Fürsprecher unbekannter romantischer Violinmusik betätigt.
Die Violinsonate war um 1890 eine der beliebtesten Gattungen; der
gebürtige Kölner Richard Franck (1858–1938), dem
das Label audite gemeinsam mit dessen Vater Eduard derzeit eine
Werkausgabe spendiert, schuf derer zwei. Die hegen zwar keinerlei
Ambitionen, Schumann und Brahms hinter sich zu lassen, enthalten
aber entzückend melodiöse Musik, der man zumal in solch
engagierter Aufführung mit Entzücken lauscht.
In Frankreich kam Fauré im Jahre 1875 als erster auf die
Idee, eine Violinsonate zu schreiben; deshalb erschien sie bei dem
deutschen Verleger Breitkopf & Härtel. Sie war zugleich
seine kammermusikalische Feuertaufe, als deren Folge Fauré
ein solches Interesse an der Geige entwickelte, dass er ein Violinkonzert
begann. Da es leider nie fertig wurde, dauerte es – von ein
paar Salonpiècen abgesehen – bis 1916, bevor sich Fauré
eine weitere (offenbar weniger geschätzte) Violinsonate vornahm.
Die preisgünstige CD von Alban Beikircher enthält endlich
einmal alle seine Werke für Duobesetzung – und zwar in
den unverfälschten Fassungen der Handschrift. Faurés
frühem Beispiel sollten, vor allem nach César Francks
berühmt gewordener Sonate von 1886, noch zahlreiche Komponisten
folgen.
Fauré hatte für seine zweite Sonate seinen bewährten
Stil nicht modernisiert – warum sollte er auch? Demgegenüber
fällt es weit mehr auf, wenn ein Pierre de Brévillle
(1861–1949) seine erste, immerhin von Enescu uraufgeführte
Violinsonate 1918 bis 1919 so schreibt, als befänden wir uns
noch im Jahre 1890. Vielleicht ist Bréville bei all seinem
unüberhörbaren Können auch deshalb so gründlich
vergessen worden. Joseph Canteloube, der seinen Ruf ebenfalls als
Liedkomponist erwerben sollte (,,Chants d‘Auvergne“),
schrieb, von seinem Mentor Vincent d‘Indy gut beraten, mit
25 die ,,Suite: Dans la montagne“, eine verkappte Violinsonate.
Die Reife, welche ihr naturgemäß fehlt, macht sie durch
Spontaneität und Fasslichkeit spielend wett. Was für Canteloube
die Berge waren, das bedeutete für unseren nächsten Komponisten
die Küste: Auch Paul Le Flem, der erst 1984 mit 103 Jahren
starb, schuf 1905 eine Violinsonate. Aus dem gleichen Jahr datiert
sein Klavierquintett. Der Bretone zeigt sich von allen in diesen
Zeilen angeführten Komponisten wohl am ehesten mit Claude Debussy
verwandt: Aus der keltischen Folklore entlehnte Pentatonik verleiht
seiner Musik fernöstliches Flair, und dank ihrer reichen Harmonik
zelebriert sie ein Fest der Sinnlichkeit. Bei allem scheinbar improvisatorischen
Gestus spürt man die Sicherheit in der Formgebung. Ein Tonsetzer,
dessen übrige (überwiegend orchestrale) Hinterlassenschaft
förmlich danach schreit, entdeckt zu werden. Dem Belgier Guillaume
Lekeu war ein Leben vergönnt, das nicht einmal ein Viertel
der Jahre Le Flems währte: Es endete 1894, als er 24 war. Als
Lekeu an Typhus erkrankte, hatte er gerade zwei Sätze eines
Klavierquartetts abgeschlossen, die das Antwerpener Spiegel String
Quartet mit dem Pianisten Jan Michiels eingespielt hat. Schon das
hier gleichfalls berücksichtigte, isolierte Molto Adagio für
Streichquartett sowie eine sichtlich von Beethoven angeregte, sechssätzige
Komposition für die Königsgattung – beide von 1887
– hatten (trotz kleinerer, verzeihlicher Schwächen) einen
jungen Meister offenbart. Nicht auszudenken, wie sich dieser Hochbegabte
weiter entwickelt hätte!
Man muss bereits dankbar sein, wenn von Max Bruch einmal anderes
als die einschlägigen Violinkonzerte Beachtung findet: Der
Acht Stücke op. 83 von 1910 für Klarinette, Violoncello
und Klavier hat sich jetzt das kanadische Amici-Ensemble angenommen.
Gesteigerten Repertoirewert erhält die CD durch die reizvolle
Kombination mit Vincent d’lndys Klarinettentrio von 1888,
das dieser selbst hoch schätzte: eine Alternative zu Brahms’
späterem op. 114 für dieselbe Besetzung. Frank Bridge
ist bei uns als Lehrer Brittens (und Lieferant eines von jenem variierten
Themas) ein vager Begriff. Dass er als Kammermusiker Gehör
verdient, beweist spätestens die dritte, abschließende
Folge seiner Kompositionen für Streichquartett, welche das
nicht bloß entdeckungsfreudige, sondern qualitativ zur ersten
Garnitur zählende Maggini Quartet jetzt vorlegte. Für
unser Thema relevant sind die „Phantasy“ für Klavierquartett
und das 2. Streichquartett von 1909 bis 1910 beziehungsweise 1914
bis 1915. In ersterer bleibt Bridge trotz der erweiterten Form (die
wie Schönbergs gleichzeitige Kammersinfonie Mehrsätzigkeit
im Rahmen eines durchkomponierten Satzes erreicht) innerhalb der
Konventionen des vorigen Säkulums; in letzterem spielt die
gesteigerte Chromatik, die für das dissonanzenfreudige Spätwerk
bestimmend wird, bereits eine prominente Rolle.
Als sein op. 1 legte Dvoráks Lieblingsschüler Josef
Suk (1874–1935) ein dem Lehrer dediziertes Klavierquartett
vor, dem er kurz darauf ein beinahe orchestral angelegtes Klavierquintett
folgen ließ – ebenfalls in Moll und diesmal keinem geringeren
als Brahms zugeeignet. Zarte Anklänge an die Stile der Widmungsträger
bleiben nicht aus, verlieren sich aber zunehmend. Von 1900, also
bereits nach seiner Eheschließung mit Otilie Dvorák,
datieren die wie zum Atem holen zwischen die ausladenderen Werke
platzierten Vier Stücke für Violine und Klavier op. 17;
sie erweisen sich wegen der inzwischen eingetretenen Reife des Komponisten
jedoch als die eigenständigsten Kompositionen dieser vom renommierten
Nash-Ensemble verantworteten CD.
Der Russe Alexander Ivashkin hat sich auf Gesamtaufnahmen der Cellowerke
seiner Landsleute spezialisiert. Rachmaninoffs originale Musik für
Cello und Klavier entstand 1890/92 und 1901. Im Zentrum dieser kleinen
Werkgruppe steht natürlich die beliebte große Cellosonate
op. 19; aber auch das es-Moll-Original der unverwüstlichen
Vokalise kann sich hören lassen. Etwas für Sammler. Alexander
Glasunow genießt als Sinfoniker begrenzten Ruf; seine Kammermusik
war bislang so gut wie unbekannt. Das Utrechter Streichquartett
ist nun angetreten, diesem Missstand durch eine Gesamteinspielung
abzuhelfen. Zwei Folgen lagen mir vor, von denen ich die erste hier
vorstellen will. Bis auf ein spätes Gelegenheitswerk entstanden
Glasunows fünf nummerierte Gattungsbeiträge (neben einigen
klei-neren Stücken) zwischen 1882 und 1899. Das Jahr des Ersten
Quartetts war zugleich das der Ersten Sinfonie, mit welcher der
noch nicht 17-Jährige über Nacht bekannt wurde. –
Nr. 3 lebt in der gewichtigeren zweiten Hälfte von der meisterlichen
Verarbeitung slawischer Folklore – Mazurka, Trepak, Polka,
Krakowiak und Hopak, während Nr. 5, die Krönung von Glasunows
Quartettschaffen, ein vollkommen ausgewogenes Ganzes bildet. So,
wie von den hochmotivierten Utrechtern hier kredenzt, wird Kammermusik
zum Erlebnis: weder altbacken noch abgehoben, sondern wahrhaft beseelt.
Mátyás Kiss
Diskographie
Arnold Schönberg: Verklärte Nacht
op. 4 (und Johannes Brahms: Trio op. 8 – Originalfassung);
Trio Jean Paul. Ars Musici/Note 1 CD AM 1383-2
Ferruccio Busoni: 2. Sonate für Violine
und Klavier op. 36a (und Violinkonzert op. 35a); Frank Peter Zimmermann,
Violine; Enrico Pace, Klavier. Sony BMG 5K 94497
Richard Franck: Violinsonaten Nr. 1 D-Dur op.
14 & Nr. 2 c-moll op. 35, Stücke op. 52; Christoph Schickedanz,
Violine; Bernhard Fograscher, Klavier. audite/Naxos SACD 92.915
Gabriel Fauré: Sämtliche Werke für
Violine und Klavier: Sonate Nr. 1 A-Dur op. 13 & Nr. 2 e-Moll
op. 108, Berceuse op. 16, Romance op. 28, Andante op. 75 u.a.;
Alban Beikircher, Violine; Roy Howat, Klavier. Arte Nova/Sony
BMG 74321 927632
Pierre de Bréville: Violinsonate Nr. 1
cis-moll; Joseph Canteloube: Suite: Dans la montagne; Philippe
Graffin, Violine; Pascal Devoyon, Klavier. Hyperion/Codaex CDA67427
Paul Le FIem: Klavierquintett e-Moll, Violinsonate
g-Moll ; Quatuor Louvigny, Philippe Koch, Violine; Alain Jacquon,
Klavier. timpani/Note 1 CD 1C1077