[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 12
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Semmelmann
Tod im Achtelfinale
Selbst Leute, die mich wenige Tage vor dem Start der WM noch hasserfüllt
anguckten, nur weil ich ohne Scham zugab, mich auf die WM zu freuen,
rennen heute mit Deutschlandtrikots, Deutschlandfahnen, Deutschlandkäppi,
Deutschlandschminke, Deutschlandtangas und anderem mehr oder
weniger schwachsinnigen Vaterlandsgedönse in der Gegend herum.
Tiefsitzende Minderwertigkeitsgefühle wittern die Chance auf
dauerhafte Kompensation und noch mehr. Je kleiner das Hirn, desto
größer die Fahne. Das war schon immer so. Das sind Programmierungen
des menschlichen Genoms, denen man nur mit der Atomphysik oder Ähnlichem
zu Leibe rücken kann.
Beim Abfeiern in den Public Viewing Areas – trotz des Neuen
Patriotismus Deutschlands (NPD) meiden wir ja in der Öffentlichkeit
unsere eigene Mothertongue, wo es nur geht – ist der König,
der den größten und schamlosesten Deppen am Flecken gibt.
Und auch das war schon immer so. Dieses Prinzip haben die berichtenden
Medien 1:1 übernommen. Netzer & Delling in der ARD sind
diesbezüglich noch die Harmlosesten. Lediglich – oder
Gott sei Dank – zwei Personen, die sich in grammatikalisch
und stilistisch nahezu korrekten Haupt- und Nebensätzen unterhalten,
denen auch ein Langsamkapierer wie ich folgen kann. Über den
Inhalt mag man streiten, aber das gehört jetzt nicht hierher.
Im Vergleich zur ARD ist das ZDF der nackte Horror. Hier quatschen,
quietschen, schnattern und stammeln stets mehrere Leute gleichzeitig
und lautstark in Kameras und Mikros. Allen voran der Herr mit den
vielen Werbeverträgen, der sich die Gottschalk’sche Maxime
„Ich will‘s ja gar nicht wissen, ich will‘s ja
nur sagen“ zum Leitartikel seiner lausbubigen und supergutgelaunten
Verfassung gemacht hat.
Diese Entwicklung kann man beim ZDF schon seit vielen Jahren beobachten.
Und mit dem Ende der WM ist der Sender auf dem Wege zur Königin
des Unterschichten-Fernsehens einen Riesenschritt vorangekommen.
Gestern habe ich mir dann die Königin selbst gegeben. WM-Berichterstattung
auf RTL. Von zirka 13 Uhr bis 23 Uhr. 10 Stunden. Ich musste allerdings
mehrere Pausen einlegen, die gegen Ende immer länger wurden.
Sonst würde ich jetzt nicht hier sitzen und diesen Beitrag
schreiben. Alter Schwede, da wartet noch einiges an Arbeit auf das
ZDF. Je ausgelassener und quietschiger die Stimmung in den vom neuen
Patriotismus Deutschlands geschwängerten Straßen, umso
mehr widert mich das Ganze an. Und das mir, dem Spross einer Familie
mit langer Fußball- und Arbeitertradition.
Ab dem Achtelfinale werde ich meine nicht unumstrittenen Terrassenkonzerte
wieder einführen. Darüber berichtete ich bereits in einer
meiner ersten nmz-Glossen. Diese zauberhafte Tradition hat in meiner
Nachbarschaft bereits zu vielen kontroversen bis handgreiflichen
Diskussionen geführt. Ein etwaiges Achtelfinale Deutschland
gegen England kann man in ein ganz bezauberndes musikalisches Kostüm
packen. Unsere Terrasse ist eigentlich keine, geht sie doch zum
2. Stock hinaus. Doch dieser Terminus hat sich so eingebürgert,
da auch eine Art Garten vorgelagert ist. Die Begrenzungsmauern bilden
eine wunderschöne Egorampe, die für meine umjubelten Auftritte
einfach ideal ist. Die Nationalhymnen begleitete ich mit meiner
Gibson SG und habe dabei die Röhrenvorstufe meines Verstärkers
bis zum Anschlag aufgerissen. Die kreischenden Feedbacks lassen
Woodstock-Feeling aufkommen und Hendrix‘ Interpretation der
vom Vietnamkrieg blutgetränkten Amiflagge liegt wie eine auf
das Trommelfell trommelnde Trommel und an den Gehörknöchelchen
sägende Säge über unseren Häusern. Mein Spiel
ist so perfekt, dass es die Nachbarschaft zunächst nicht merkt.
Die ersten 15 Spielminuten begleite ich mit einer Dark-Metal-Durchhalteversion
von Tony Marshalls „Heute hauen wir auf die Pauke“.
Meine Stimme lege ich digital eine Oktave tiefer und gröle
furchteinflößend in den schwülen Abendhimmel:
Today we beat se kettledrums
We will make srough til tomorrow dawn,
Today we beat se kettledrums
We will make srough til tomorrow dawn.
Immer wieder und immer wieder. Im gleichen Moment, in dem Rio
Ferdi-
nand per Kopfball die Pille im deutschen Tor versenkt, peitscht
ein Schuss durch die flimmernde Luft. Tödlich getroffen stürze
ich ins Leere. Und gerade wollte ich mich wundern, warum das denn
so lange dauert.