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nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 34
55. Jahrgang | Jul./Aug.
ver.die
Fachgruppe Musik
Den Menschen insgesamt begreifen
Einmalig: Ein Essener Musik-Schul-Projekt für Integration
und gegen die geistige Verarmung
Auf drei Jahre angelegt ist das Projekt „ReSonanz&AkzepTanz“,
das im September an einer Essener Grundschule begann, einem sozialen
Brennpunkt in der Nordstadt: In drei Jahren wird in den acht Klassen
der Ganztags-Schule keine Stunde mehr vergehen, in der nicht musiziert,
getanzt und gesungen wird, um das Lernen, die Integration und Gewaltprävention
voranzubringen. Psychischen und physischen Defiziten der Kinder
soll zumindest entgegengewirkt werden. Partner des einzigartigen
Unternehmens sind das Mozarteum Salzburg, die Philharmonie Essen
und die Herbartschule unter der Schirmherrschaft des NRW-Kulturratsvorsitzenden
Gerhard Baum. Nach der mehrmaligen Aufführung des Stücks
„Gunibagu“ in der Philharmonie zogen die Partner im
Gespräch mit Burkhardt Baltzer eine erste Bilanz.
Burkhard Baltzer: Wie werden das Salzburger Mozarteum,
die Philharmonie Essen und die Herbartschule aus dem Essener Norden
nach diesem erfolgreichen Jahr weiterarbeiten?
Thomas Heuer (Professor am Mozarteum): Das werden wir nach einer
gemeinsamen Auswertung festlegen.
Baltzer: Es gibt doch sicherlich bereits Vorstellungen?
Heuer: Wir werden unsere Arbeit mit den jetzigen
zweiten, also den künftigen dritten Klassen fortsetzen. Wir
möchten uns dem Deutschnterricht annähern, also Sprache
einbeziehen, wie sie im Unterricht vorkommt.
Baltzer: Herr Kaufmann, Sie haben in Ihrem Grußwort
von Diskussionen in den Philharmonie-Gremien gesprochen, die auf
mangelnde Akzeptanz des Projekts schließen lassen. Gibt es
Neider, ablehnende Stimmen? Das Projekt kostet die Philharmonie
immerhin viel Geld.
Michael Kaufmann (Intendant der Philharmonie):
Zunächst einmal bin ich sehr zufrieden und sehr glücklich
angesichts des Ergebnisses. Es ist doch fantastisch, welche Kreativität
das Projekt bei Schülern, Studenten und bei uns freigesetzt
hat. Das war auch harte Arbeit, was keinesfalls romantisiert werden
darf – und somit ein großer Lernerfolg. Wir hatten dafür
keine Vorbilder, sondern haben etwas entwickelt, wovon wir anfangs
nicht wussten, welchen Erfolg es bringen würde. Es ist sicherlich
mein Job als Intendant zu verteidigen, warum wir in dem dreijährigen
Modell viel Geld ausgeben. Die Bedenken dagegen werden aus mangelndem
Sachverstand geäußert, was ich nicht hochnäsig meine.
Im 20. Jahrhundert haben sich die Menschen zu Spezialisten und auch
Fachidioten entwickelt, jedoch das Ganzheitliche der Entwicklung
aus den Augen verloren. Das, was wir hier gesehen haben und was
an der Herbartschule geschieht, ist der Versuch, den Menschen insgesamt
zu begreifen: Ihn zu fördern, um ihn erleben zu lassen, was
alles in ihm steckt. Es gibt derzeit keine deutsche Hochschule,
mit der man so etwas hätte machen können. Deshalb unsere
Zusammenarbeit mit dem Mozarteum. Dennoch werden wir zusätzlich
im kommenden Schuljahr die Folkwang Hochschule einbeziehen, um auch
hier zu ankern. Tatsächlich war es schwer, unseren Sponsoren
den ganzheitlichen Ansatz zu erklären: dass nicht allein die
Sprachentwicklung, das perfekte Singen oder Tanzen das jeweilige
Ziel ist. Sondern, dass jedes Kind spürt, dass es eine Entwicklungschance
hat. Aber genau dieses Wunder ist mit den Kindern in den letzten
zehn Monaten geschehen.
Baltzer: Im Vergleich zu den Proben im März
konnte in der Aufführung ein enormer Qualitätssprung beobachtet
werden. Worauf ist der zurückzuführen? Auf die Ausnahmesituation
der Aufführung in der Philharmonie, Klaus Fessmann?
Klaus Fessmann (Professor am Mozarteum): Ich
denke, Grund dafür ist der Prozess, der sowohl in Salzburg
bei den Studenten stattfindet als auch bei den Kindern in der Essener
Schule. Ich sehe das nicht als Sprung, sondern als Ergebnis unendlich
vieler Diskussionen und Auseinandersetzungen und Proben –
also ein Lernprozess auf beiden Seiten. Es wurde ja auch kein Programm
abgespult, sondern dieses Stück ist gewachsen. Alle Beteiligten
haben dabei enorm gelernt und haben an Souveränität gewonnen,
wenngleich es ein riesiger Kraftakt war. Man muss sich das mal vor
Augen halten: Ich sitze Samstagnacht im Zug nach Salzburg und treffe
eine Studentin, die gerade aus Essen kommt, wo sie seit Donnerstag
früh gearbeitet hat: Und diese Studentin strahlt vor Glück
über ihre Arbeit! Die hätte allen Grund gehabt, fertig
oder ausgepumpt zu sein, aber sie strahlt, obwohl sie drei Tage
lang keinen Moment Ruhe hatte, denn die Kinder haben im wahrsten
Sinn des Wortes an ihr geklebt.
Baltzer: Didaktisch und methodisch vorbereitet
werden die Studentinnen und Studenten in Salzburg recht dürftig,
so meine Beobachtung. Müsste deshalb nicht eine engere Zusammenarbeit
mit den Lehrerinnen und Lehrern der Herbartschule ganz oben auf
der Tagesordnung stehen?
Fessmann: Das war Teil des Prozes-ses: Wir haben
eben nicht eine tagelange didaktisch-methodische Grundsatzdiskussion
geführt, ein Paper verfasst und dann begonnen zu arbeiten.
Unser Projekt soll drei Jahre dauern, und wenn jetzt von den Lehrkräften
eine stärkere Zusammenarbeit gewünscht wird, dann ist
dem Rechnung zu tragen als neue Komponente in diesem Prozess.
Baltzer: Gibt es diesen Wunsch von Seiten der
Schule und von Ihnen als Rektorin, Frau Sass-Leicht?
Angelika Sass-Leicht: Wir werden jetzt Bilanz
ziehen in einem Abschlussgespräch und wir werden gemeinsam
unsere Zusammenarbeit bei den kommenden dritten Klassen planen.
Die Kinder der jetzigen zweiten Klassen kennen ja nun das Ziel.
Das war nicht der Fall, als die Arbeit im vergangenen Herbst mit
den dritten Klassen begann.
Heuer: Unsere Studenten sind allgemein sehr wohl
didaktisch gut vorbereitet. Wenn hier Dinge besser hätten laufen
können, dann lag das daran, dass sie hier Situationen gegenüberstanden,
die es für sie vorher noch nicht gab. Dass sie sie hier meisterten
und begeistern konnten, das ist die Kunst, die es braucht. Darin
ist vielleicht der Quantensprung begründet, von dem Sie sprachen.
Baltzer: Frau Sass-Leicht, was geschieht jetzt
mit den künftigen vierten Klassen nach dem Jahr Arbeit mit
dem Mozarteum?
Sass-Leicht: Die lassen wir nicht im Regen stehen,
sie werden in andere musische Projekte eingebunden. Sie werden überdies
mit sehr wachen Augen darauf schauen, was die Gruppe unter ihnen
macht.
Kaufmann: Wir müssen schauen, dass das Frische,
Unverbrauchte bewahrt wird, was die Qualität dieser Aufführung
ja auch ausmachte, bei allen Beteiligten. Wir überlegen schon,
was wir mit den künftigen vierten Klassen machen. Da ist die
Idee der Lehrerinnen von der Herbartschule, eine Art Chor anzubieten,
ein Impuls. Wir wollen nicht bei dem Ergebnis stehen bleiben, wir
sind mit der Idee gestartet, dass das Projekt drei Jahre dauern
soll.