[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 6
55. Jahrgang | September
www.beckmesser.de
Das alte Gedudel
Willkommen in der Vergangenheit! Nach dem zukunftsfrohen Fußballfest
im Juli, als die Welt in Deutschland zu Gast war, geht’s zum
Neustart nach den Ferien im Marschschritt wieder zurück in
alte Zeiten. In Stereo fliegen einem die Misstöne um die Ohren,
und der Himmel hängt voller SS-Runen.
Aus dem rechten Lautsprecher erklingt die seltsame Versöhnungsmelodie
der Vertriebenenkönigin Erika Steinbach, die 1943 im besetzten
und verwüsteten Polen als Tochter eines Wehrmachtsoldaten geboren
wurde und sich nun zum Sprachrohr der Opfer aufschwingt. Und wenn
die wirklichen Opfer gegen diese Dreistigkeit protestieren, wie
es der polnische Staatspräsident mit seinem demonstrativen
Besuch im KZ Stutthof bei Danzig nun vormachte, wird ihnen in deutschen
Medien mangelnder Versöhnungswille unterstellt.
Die öffentliche Akzeptanz der politischen Pornografie wurde
schon vor einigen Monaten in Pulheim bei Köln getestet, wo
ein Kunst-Entertainer mit obrigkeitlicher Billigung Autoabgase in
eine ehemalige Synagoge leiten durfte. Mit dem klaglos tolerierten
Opfergedudel der Täter-Nachkommen nimmt die Vergiftung des
politischen Raums nochmals um einen Grad zu.
Von links ertönt das aufgeregte Pro und Kontra um die Mitgliedschaft
von Günter Grass in der Waffen-SS. Durch ihn ist Hitlers Elitetruppe,
wie man nun weiß, klammheimlich an den Nobelpreis gekommen,
womit ihrer Diskursfähigkeit nichts mehr im Weg steht. Einundsechzig
Jahre nach Kriegsende ist die staatliche Mörderbande wieder
Teil des deutschen Alltags, ihre schwarzen Uniformen marschieren
im Fernsehen, im Zeitungsfeuilleton, im Nachrichtenmagazin, am Stammtisch.
Und jedes Mal durch unsere Köpfe. Beim ausgelassenen Fähnchenschwenken
in den Fussballstadien vor zwei Monaten konnte man sich zu Recht
über das neue, unverkrampfte Nationalbewusstsein freuen. Nun
mischt sich in den fröhlichen Jubel wieder der schwere Tritt
der schwarzen Stiefel.
Weshalb diese klebrige Erinnerungskultur? Der Hauptgrund ist gewiss
der, dass einem beim Gedanken an die Untaten während der zwölf
braunen Jahre bis heute der Atem stockt. Dass aber das Thema gerade
in den Feuilletons so hochschwappt, liegt an etwas anderem. Die
intellektuellen Moralprediger der Bundesrepublik, die stets wortgewaltig
auf die andern zeigten, verheimlichten der Öffentlichkeit jahrelang,
dass sie selbst zu den Mitmachern und Mitläufern gehörten:
der linke Rhetorikprofessor Jens, der progressive Literat Höllerer,
der gediegene Germanist Wapnewski, Grass und viele andere.
Die Gründe ihres Verschweigens müssen sie mit sich selbst
ausmachen. Aber der moralische Anspruch, mit dem sie als Erzieher
der Öffentlichkeit und der jungen Generation aufgetreten sind,
geht uns alle an: Er erscheint in diesem Licht als Entlastungsmanöver,
um vom eigenen Versagen abzulenken. Die Aufklärer als verkappte
Dunkelmänner.
In der Musik waren diese Verdrängungsmechanismen vor allem
auf den akademischen Bereich beschränkt. Bei den Komponisten
aus der Darmstädter Revoluzzergeneration, vergleichbar der
Gruppe 47, findet man sie nicht, vielleicht auch weil sich die deutsche
Musikszene nach dem Krieg sofort internationalisierte. Ein Stockhausen,
ein Henze komponierten sich ihr Nazitrauma vom Leib, Nono wuchs
im Dunstkreis der Resistenza auf, Boulez als Franzose war jenseits
von Gut und Böse, der Jude Ligeti vor und nach 1945 doppelt
diskriminiert.
Anders die Literaten. Sie hatten als Heranwachsende die Macht
der Worte aus Schulbüchern, Zeitungen und Lautsprechern kennen
gelernt und den wichtigtuerischen Tonfall beim Verkündigen
apodiktischer Wahrheiten – „Achtung Achtung, hier spricht
der Führer“ – verinnerlicht. In ihren moralischen
Verdammungsurteilen aus den Nachkriegsjahrzehnten klingt dieser
Tonfall nach, Widerspruch war nicht gestattet. Insofern hat Grass’
späte Selbstentblößung auch ihr Gutes. Mit dem seltsamen
Brauch des selbstgerechten öffentlichen Moralisierens von Künstlern
ist damit ein für alle Mal Schluss.