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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 44-45
55. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Botschaften vom armen Irren
Peter Jan Marthé legt Bruckners Neunte mit ergänztem
Finale vor
Seit einigen Jahren ist Bruckners neunte Sinfonie zum Problem
geworden. Mit der wachsenden Kenntnis von Entwürfen, fertig
komponierten Teilen und fest umrissenen Lücken mochte man sich
nicht mehr ins Schicksal ergeben, dass Gott dem Komponisten nach
dem abgeklärt endenden Adagio den Griffel aus der Hand nahm.
Bruckner plante, das verdichtete sich immer mehr, Schwerwiegendes.
Es gibt Zeiten in der Musikgeschichte, die für etwas reif
geworden sind. Meist bezieht sich dies auf das Begreifen eines Werks,
zumindest auf das Akzeptieren desselben. So mussten zum Beispiel
Beethovens späte Quartette, die letzten Arbeiten Schuberts
oder auch das Werk von Anton Webern lange warten, ehe sich die Ohren
einer etwas breiteren Öffentlichkeit für sie öffneten.
Doch es existieren auch musikalische Konzeptionen, die vom Komponisten
selbst nicht mehr zu Ende ausgeführt werden konnten, die aber
als einmal Gedachtes gleichsam imaginär vorliegen. Das Finale
von Bruckners neunter Sinfonie ist so ein Fall. An eine Vervollständigung
hat sich nach Bruckners Ableben zu Recht niemand gewagt. In den
letzten zehn Jahren aber begann in musikwissenschaftlichen Kreisen
eine rege Sammeltätigkeit. Man fand Skizzen und Entwürfe,
fertig geschriebene Passagen und immer wieder auch große Lücken,
die zwar in ihren zeitlichen Proportionen kenntlich wurden, für
die aber festgelegtes Tonmaterial weitgehend fehlte. Und hier begannen
die Debatten um Werktreue, was immer dies auch sei. Akribisch und
wissenschaftlich genau hat sich in den letzten Jahren in erster
Linie Nikolaus Harnoncourt an die Front gewagt. So stellte er das
Finale vor, spielte Passagen, ließ immer wieder Löcher.
Ein Gerippe der Musik wurde kenntlich, ahnbar wurde die Kühnheit
des Entwurfs, die Schroffheit der harmonischen Anlage, die Zwingkraft
der thematischen Bündelung.
Wirklich hat Bruckner, dieser arme Irre, den die Pfaffen von St.
Florian auf dem Gewissen haben (so Brahms über Bruckner), sein
„dem lieben Gott“ gewidmetes Werk im Finale die Krone
aufzusetzen versucht. Letztlich auszuführen vermochte der schwerkranke
Bruckner diesen Gewaltakt nicht mehr, obwohl er Freunden immer wieder
Passagen aus dem Schluss-Satz vorspielte: auch die Coda als Türmung
thematischer Gestalten aus seinem Lebenswerk, von der er nichts
mehr zu Papier brachte. Gedacht also war das Werk zu Ende. Fleisch
(oder in Noten fixierter Klang) geworden aber war es nicht. Wie
aber steht es um Dinge in der Welt, die, wie ein mathematischer
Beweis, schon einmal gedanklich ausgeführt waren, aber als
nicht Niedergeschriebenes verloren sind? Haben sie eine heimliche
Existenz? Jedes aufgeklärte Bewusstsein wird dies vehement
verneinen, aber eben dieses Bewusstsein hat ja in letzter Zeit einige
Schrammen bekommen.
Der mitunter auch komponierende Dirigent Peter Jan Marthé,
der bei Celibidache Unterricht nahm, der nach Indien zu Ustad Ameer
Mohamed Khan ging, um tiefere Wesensformen des Klangs zu erfahren,
ist ein Bruckner-Fanatiker. Als er auszog in die Welt spiritueller
Klangerfahrung, hatte er nur Bruckner im Gepäck, im Bewusstsein,
dass in erster Linie dort reines spirituelles Klangempfinden in
die Musik des Abendlandes eingedrungen war. Doch der Schluss-Satz
der Neunten, das war ihm lange klar, würde wohl nie zu entschlüsseln
sein. Doch nach seiner gro-ßen Arbeit an der Dritten wurden
immer wieder Anfragen an ihn gestellt. Und nach eingehender Beschäftigung
mit dem Material stellte sich bei ihm plötzlich die Überzeugung
ein, dass es sich bei der Neunten („Da werden sie sich giften“,
hat Bruckner einmal über das Werk geäußert und meinte
wohl Feinde wie auch Parteigänger) um ein auskomponiertes archaisches
Initiationsritual handele. Wie auch immer man zu dieser These stehen
mag, für Marthé war es ein Schlüssel, sich dem
unvollendeten Werk zu nähern.
„Ich begann die Arbeit am Finale wohl mit ähnlichen Gefühlen
wie die Initiatoren des Dresdner Unterfangens, aus einer beängstigend
chaotischen Masse von Steinen das Prachtgebilde der Frauenkirche
hochzuziehen“, meinte Marthé. Das ist eine schlichte
Untertreibung, denn bei der Frauenkirche handelte es sich um ein
klar berechenbares Puzzle aus fertig behauenen Steinen. Das Finale
der Neunten besitzt auch solche Steine, von anderen Teilen aber
ist allenfalls der rohe Stein oder gar nur der Steinbruch bekannt.
Aber ein anderes Beispiel mag einfallen. Vom jungen Morton Feldman
gibt es Partituren, die nur die zeitlichen Dimensionen und ein paar
Hinweise auf die Art des Tones vorschreiben.
Der Rest bleibt beim Interpreten, aber wehe, wenn er nicht den
passenden Klang findet! Gut, mag man sagen, das ist Konzeption eines
offenen Werks, Bruckner aber hatte eine in sich ausformulierte Gestalt
im Sinn. Doch warum sollte man sich nicht mit dieser Offenheit,
die ein musikalisches Bewusstsein des 20. Jahrhunderts sich erst
erobern musste, dem Finale nähern? Es ist freilich ein Unternehmen,
in dem sich kindliche Naivität mit der Unbefangenheit eines
frechen Akts verbünden. „Trau’ di nur! Sperr deine
Ohrwaschl auf und schreib oanfoch nieda, wia’s in dir drinnen
is. s’Gwantl dazua host jo dann eh von mir!“ Diese innere
Stimme (Bruckners) war für Marthé Auftrag.
Nichts ist leichter, ja trivialer als der Vorwurf, dass es sich
hier in vielen Passagen nicht um Bruckner handelt. Das behauptet
Marthé auch gar nicht. Er ist vehementer Kritiker des klassischen
Musikbetriebs, der im Grunde nur seine Urnen verwaltet und darüber
das Signum der Werktreue setzt. Für ihn muss Musik leben, sie
muss vor allem wirken. Und klar ist, dass das Finale der Neunten
nicht als matter und knöcherner Beschluss der Sinfonie konzipiert
war, sondern als fulminante, erd- und himmelnahe, apokalyptische
Krönung des Werks: Musik, die alle Dimensionen des bisherigen
Bruckner’schen Denkens sprengt. Dieser existentiell erschütternden
Wirkung nun spürte Marthé nach und wirklich gelang es
ihm im Gegensatz zu den bisherigen Versuchen, die Wucht, die beißenden
Kühnheiten, die überraschenden und überwältigenden
Wendungen des Finales in hörbare Gestalt zu setzen. Eine Stunde
und fünfzig Minuten dauerte bei ihm die ganze Sinfonie und
allein schon durch diese kaum mehr als himmlisch (so Schumann über
Schuberts C-Dur-Sinfonie) zu bezeichnende Länge rückte
sie in die Nähe eines rituellen Akts.
Nach Fertigstellung des Finales verschoben sich natürlich
die Dimensionen des ganzen Werks. Der erste Satz ist Exposition
aus dem Vormusikalischen heraus, der zweite elementare Wucht, der
dritte ist in dissonanten Schichtklängen durchlittener Gang
zur Loslösung von dieser Welt (dieses Immer-Leichter-Werden
des Klangs am Schluss besonders zwingend). Das aber waren nun allein
Vorstufen zu einer gewaltigen Bündelung zurück ins Leben,
zurück auf die Erde im Klammergriff von Himmel und Hölle
oder, wenn man es profaner will, von Hoffnung und Verzweiflung.
So ließ Marthé das Finale mit einer fast gewalttätigen
Introduktion in der Pauke beginnen, ehe Bruckners kühne, chaosnahe
thematische Formulierungen, die Zwölftönigkeit oder zumindest
radikales Überschreiten der Tonalität vorwegnehmen, Raum
fassen. Die drei Themengruppen schritten gleichsam Sphären
ab: Instabilität, Abgehobenheit und choralhafte Zuversicht.
Es folgte ein kühner, aber durchaus schlüssiger Mix aus
Bruckners Vorgaben und aus Ergänzungen, der in der Durchführung,
vor allem in der Fuge, zu katastrophischen Verstrickungen, zu elementaren
Reibungen und Zusammenbrüchen führte, wie sie selbst bei
Mahler kaum zu hören sind. Die Gewalt der Konzeption dieses
Satzes wurde sinnliche Wirklichkeit. Und auch an eine Coda, von
der nichts außer mündlichen Berichten (Bruckner spielte
sie vor!) vorliegt, hat sich Marthé gewagt. Hier nahm er
das in der Erzählung erwähnte thematische Material und
orientierte sich sonst deutlich an der Coda der Achten, die ebenfalls
heterogenes thematisches Material zusammen bindet. Denn auf diese
die Zeit ins Vertikale wendende Coda läuft der ganze Satz hinaus,
löst hier letztlich seine Wirkungsmechanismen. Ein Abbruch
davor hätte, so Marthé, diesen Bogen offen gelassen.
Es liegt also etwas vor und Bruckners Prophezeiung „Da werden
sie sich giften“ dürfte auf neue Art Wirklichkeit werden.
Marthé aber begreift sein Tun nicht zuletzt als Aufforderung
an die Aufführungspraxis, die Bruckner’sche Neunte unter
anderen Perspektiven zu sehen. Wer im Adagio ihre Erfüllung
sieht, dürfte falsch liegen. Es heißt also, am Rätsel
weiterzuarbeiten und die Schlüssel zu vermehren.