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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 45
55. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Im Stillen gedeiht die Kunst oft besser
Das Interregionale Jugendorchester (IRO) in der Musikakademie
Ochsenhausen
Der Dirigent ist noch nicht ganz zufrieden. „You don’t
need so much power, I need more dolce.“ Dieses Musik-Esperanto
versteht hier jeder: Haarschöpfe in allen Naturfarben außer
Grau beugen sich einsichtig wieder über die Noten. Das Interregionale
Jugendorchester (IRO) 2006 probt Brahms in Schönbergs Instrumentierung,
im Bräuhaus der Landesmusikakademie Ochsenhausen.
Das
IRO im Bräuhaus der Landesakademie Ochsenhausen. Foto:
D.L. Schaefer
Ochsenhausen mit seiner ehemals bedeutenden Benediktiner- Reichsabtei
liegt geographisch etwas seitab der großen Pilgerwege der
Musikfreunde. Vielleicht hat gerade das auch sein Gutes. Denn da
ist gleichsam im Schatten ein Projekt gewachsen, das von Jahr zu
Jahr an Kontur und Substanz gewonnen hat.
Seit 1992 kommen hier jeden Sommer etwa hundert wildfremde, junge
Musiktreibende zusammen, um innerhalb einer Woche ein Orchester
zu formen, das ein anspruchsvolles musikalisches Programm bewältigt.
Es sind Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 16 und 23 Jahren
aus den Partnerregionen Baden-Württembergs, wozu inzwischen
neben euro-päischen Regionen wie Coimbra, Emilia Romagna, Flandern,
Katalonien, Lombardei, Polen, Rhône-Alpes, der Russischen
Föderation, Sachsen und Wales auch außereuropäische
Regionen gehören, wie das japanische Kanagawa und Ontario in
Kanada. Die Vehikelsprache ist für alle Englisch, der Umgangston
polyglotte Freundlichkeit und Kollegialität.
Fünfzehn Jahre ist das nun her, dass das Ministerium für
Kultus, Bildung und Sport Baden-Württemberg diese flexible
Institution ins Leben rief – und so schnell werden „Kinder“
erwachsen. Die Regionen schicken ihre besten jungen Musiker nach
Ochsenhausen, für die Katalanen zum Beispiel stellen die Teilnahme
und Flugreise eine Belohnung dar, in anderen Regionen muss der in
Ochsenhausen subventionierte Tagessatz von 24 Euro und auch die
Anreise aus privaten Mitteln bezahlt werden. Wie geht das mit den
Instrumenten? Vor allem bei den Kontrabässen und den Celli
springen Leihgeber ein, wie die Musikhochschulen in Tübingen,
Biberach oder Trossingen, erklärt Organisator Andreas Kreißig.
Die meisten Jugendlichen haben schon in Schul- oder Jugendorchestern
gespielt, jedoch sind die acht Stunden Probenzeit in Instrumentengruppen
oder im Orchester eine ungewohnte Herausforderung. Da tönt,
brummt und flötet es dann in Ochsenhausen aus allen möglichen
Stuckräumen, die für die Musiker und die wechselnden Dozenten
zur schönen Probenkulisse werden.
Wie sich das Orchester jeweils zusammensetzt, hängt vom Casting
ab, das der jeweilige Dirigent am Wochenende nach der Anreise vornimmt.
Ein Wahnsinnsunternehmen, wenn man es recht besieht – und
das Schwerste an allem überhaupt. Aus 90 Teilnehmern hat diesmal
Nicolas Pasquet, Professor an der Weimarer Franz-Liszt-Hochschule
und erfahrener Dirigent, das Orchester besetzt. Für das Schostakowitsch-Violinkonzert,
das die erst 26-jährige Solistin Sophie Jaffé aus Berlin
beeindruckend virtuos und beseelt interpretierte, sind Bläser
und Perkussion besonders wichtig. Dass im Hintergrund eine beachtliche
Organisation unauffällig und reibungslos abläuft, dafür
ist die Landesakademie für die musizierende Jugend in Baden-Württemberg
verantwortlich, die zusammen mit dem Landesmusikrat Baden-Württemberg
das IRO trägt. Ihr technischer Leiter Manfred Kallfass und
ihr Pressesprecher Andreas Kreißig leisten dafür zusammen
mit 31 Mitarbeitern die Knochenarbeit. Kallfass hat noch die Anfänge
der Stiftung der Akademie erlebt, die 2006 ihr 20-jähriges
Bestehen feiern konnte. Erste Kurse fanden ab 1989 statt, inzwischen
gibt es 170 Eigenkurse und 50 Belegkurse, die von Schulen oder Laiengruppen
oder für die Leh-rerfortbildung abgehalten werden. Auch damit
erwirtschaftet die Landesakademie inzwischen 57 Prozent selbst,
das ist eine solide finanzielle Basis.
Beim Mittagessen, zur Kaffeepause und zum Abendessen trifft man
sich im barocken Speisesaal. Der Service ist familiär herzlich,
das Essen, von viel Gemüse und Salat aus dem eigenen Garten
begleitet, gesund: kein Fastfood, kein Alkohol. Schließlich
soll die Probewoche effizient sein. Überhaupt muss Disziplin
nicht oft eingefordert werden – die gehört zu dieser
Kunst einfach dazu. Beim Mittagessen ergeben sich Möglichkeiten
zum Gespräch – die Solistin bespricht mit dem Dirigenten
noch ein paar Details oder der künftige Leiter des Landesmusikrates,
Prof. Wolfgang Gönnenwein, schaut herein, um der Solistin noch
mal zum letzten Preis zu gratulieren. Er sieht die Zukunft des IRO
in der Internationalität, in der konkreten Zusammenarbeit auf
kultureller Ebene und in der steigenden Bedeutung des Orchesters
als Auswahlmedium für die Qualifizierung der jungen Musiker.
Wenn man die Konzerte der letzten Jahre noch im Ohr und das erste
„Tourneekonzert“ 2006 in Weingarten gehört hat,
braucht einem nicht bange zu werden um die künstlerische Zukunft
der jungen Leute. Allerdings nur, wenn die Förderung nicht
schwindsüchtig wird.