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Ausgabe 2006/09
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nmz 2006/09 | Seite 46
55. Jahrgang | September
Oper & Konzert

Der Mythos im modernen Musiktheater

Spurensuche: eine Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing

Die Musikwissenschaftlerin Dörte Schmidt aus Stuttgart dankte zu Beginn der Studienleiterin Karin Andert dafür, dass sie die Musik immer wieder in die Kulturdebatten ihres Hauses hineinnehme und das jeweilige Thema durch die Unterschiedlichkeit der Referenten in einen allgemeineren Kontext gestellt werde.

Am Beginn ihrer Einführung stellte sie zwei kontroverse Möglichkeiten der Realisierung von Musiktheater vor, die einer vor 15 Jahren stattgefundenen Fernsehdiskussion entnommen waren: Der Opernintendant Rolf Liebermann vertrat darin die Ansicht, dass eine Aktualisierung des Musiktheaters ausgeschlossen sei, man müsse zurückgehen auf die Mythen, die eine Alternative zum Zeitgeschehen bilden, während Kulturwissenschaftler Hans Mayer das als Flucht deutete und eine Neuinterpretation und Auseinandersetzung mit der Gegenwart forderte. Sie zeigte dazu ein Bild Erwin Fischers von der Dokumenta Kassel 1982: ein gemeinsamer Wegweiser zeigt in zwei verschiedene Richtungen: Kunst – Mythos

Als Beispiel für ein modernes, mit Mythos befasstes Regietheater zeigte sie einen Ausschnitt aus dem in der Staatsoper Stuttgart aufgeführten „Ring der Nibelungen“ in der Regie von Klaus Zehelein, der leider wegen Krankheit verhindert war, an der Tagung teilzunehmen. Es wurde deutlich, dass allein der hörbare Bereich – die Musik Richard Wagners, vermittelt durch Sänger und Orchester – den traditionellen Anteil der Aufführung verkörperte. Das Bühnenbild öffnete neue Räume, zum Beispiel Raum im Raum und sogar Einbeziehung des Publikums im Theaterraum - die Kostüme wechselten von traditionell zu modern, – Hagen im schwarzen Anzug –, Projektion von Wagners Regieanweisungen während eines Zwischenspiels – Vielschichtigkeit des Geschehens, das vom Zuschauer eine eigene Deutung verlangt, ganz im Sinne von Ruth Berghaus, mit der er bereits in Frankfurt gearbeitet hatte. Dörte Schmidt führte dann ein Gespräch mit dem Komponisten Rolf Riehm, der zusammen mit Zehelein seine Oper „Das Schweigen der Sirenen“ nach dem Text von Franz Kafka entwickelte und als zweite Uraufführung in Stuttgart herausbrachte. Diese Arbeit war vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit der Textvorlage: Zur Veranschaulichung wurde die Erzählung, die eine neue Variante des Mythos vorstellt, vor jedem Vortragsblock vorgelesen: Das Wachs in den Ohren der Gefährten – ein Rat der Kirke – das es Odysseus ermöglicht, am Mast festgebunden, dem Gesang der Sirenen zu lauschen – nimmt Kafkas Odysseus selbst in die Ohren und statt des allbekannten Gesangs der Sirenen – lässt er sie schweigen und Odysseus hört das Schweigen nicht – und auch das stellt Kafka noch einmal in Frage. „... vielleicht hat er wirklich gemerkt, dass die Sirenen schwiegen und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“

Rolf Riehm sprach ausführlich über seine Kompositionstechnik – wie stelle ich „ausdruckslos“ musikalisch her, wie klingt „versagen, vorbeifahren“? – und machte nach dem Anhören von Musikbeispielen klar, dass letztlich dem Zuhörer keine Sicherheit der Wahrnehmung geboten werden kann – jeder hört nur das, was ihm offensteht.

Das Verhältnis des Mythos zur Psyche brachte Joseph Ludin, Paris, aus der Sicht des Psychoanalytikers zur Sprache und erweiterte das Thema in diese Richtung – „Das Schweigen wird nicht gehört!“, nicht nur Worte – was alltäglich ist. Er ging vom Anfang aus – jedes Menschenleben fängt an, es gibt den Anfang der Menschheit und den Anfang der Zeit – Erzählungen vom Anfang nennen wir Mythologien.

Der Mensch kann ohne eine Vorstellung über seinen Ursprung nicht auskommen. Drei Ebenen des Mythos kann man seiner Meinung nach unterscheiden: diejenigen, in denen es um Erschaffung von Welt geht, diejenigen, in denen es um das Wirken und die Wirklichkeit von Göttern geht und diejenigen, in denen ein Mensch als Held auftaucht, als Exemplum – der Mensch als Irrender und Verirrter. Der Mythos enthält nicht Wahrheit, sondern eher Wirklichkeit – Geschehnisse, die erzählt wurden. Das Erzählte wurde häufig gesungen – der Mythenerzähler ist ein Sänger. Ludin nannte Freud einen wissenschaftlichen Mythenstifter. In den Mythen wird von der Triebwelt erzählt: Muttermord, Vatermord, Vergewaltigung, Inzest, unvorstellbare Grausamkeit, Neid, List, Trug, Hybris, Kastration, der Schrecken des Endes bringt keinen Trost, Mythen sind keine Philosophie, keine Weisheitslehre, kein Glauben.

Die Philosophin und Autorin Elvira Seiwert begann ihr Referat mit der mythischen Erzählung von der Weberin Arachne, die Pallas Athene zu einem Wettbewerb herausgefordert hatte und von dieser in eine Spinne verwandelt wurde. Dieses Bild der Spinne, erklärte Seiwert, erscheine ihr als mythisches Bild der Moderne: Die Spinne produziert Netzwerke, verknüpft alles und jedes. Sie wollte allerdings streng analysierend vorgehen und zitierte Überlegungen von Walter Benjamin „Solange es noch einen Bettler gibt, solange gibt es noch Mythos“, der auf allen Bühnen zuhause ist, zitierte ein bei Adorno gefundenes Kinderlied „Bettler läuft der Pforte zu, schlaft in guter Ruh“, eine Figur, die im Wotan bei Wagner, im heimkehrenden Odys-
seus auftaucht, und fand bei Kierke-gaard dazu einen Text wie ein Kinderlied, der ins Philosophische übersetzt die Immanenz des Mythischen beschreibt:

„Wir kommen nicht heraus
aus diesem alten Haus
und laufen wir wohin
so sind wir immer noch darin
das macht uns Angst und Graus.“

Sie stellte Nietzsches zwanghaft tanzenden dionysischen Menschen vor, der bereits in der Romantik in Spalten und Klüften zu bacchantischen Festen aufgestiegen war.

Am Samstagabend folgte ein Konzert mit Barbara Maurer, Viola, und Martin Fahlenbock, Querflöte, vom Ensemble Recherche Freiburg. Nicht nur, dass sie die Solostücke mit beeindruckender Intensität spielten, es wurde hörbar, dass zum Mythos der Flöte des Pan, wie er noch in Syrinx von Débussy zu hören ist, bei Cassandra’s Dreamsong von Ferneyhough (1943) und L’orologio di Bergson (1999) von Sciarrino eine absolut neue Dimension – auch des Schreckens – hinzugekommen ist. Barbara Maurer brachte nach Manto 3 – Gesang der Sybille von Scelsi (1957), das in seiner Verschränkung von Violaspiel mit Singstimme hohe Virtuosität erforderte, und einem Duo mit Bassflöte von Georg Friedrich Haas ein Solo von Georg Brecht (1931) zur Aufführung: Sie setzte sich auf einen Klavierstuhl und putzte mit Lappen und Öl vier Minuten lang geräuschvoll ihr Instrument. Natürlich entfesselte ihr Tun keinen Proteststurm – sie hatte ihr Können bereits unter Beweis gestellt – trotzdem veranlasste das Stück am Sonntag zu einer längeren Diskussion. Die älteren Fachleute fanden es museal, dem eigenen Fluxus Mythos beizuwohnen, ein anderer empfand, nach Rücksprache mit der Künstlerin, die mitteilte, dass keinerlei andere Angaben als „polishing“ angegeben seien, dass sie zu hektisch vorgegangen sei, ein anderer schlug vor, das Stück auf sechs Stunden auszudehnen – am meisten Heiterkeit erregte der Hinweis der Künstlerin, dass sie das Stück so oft aufführe, wie es zur Pflege ihrer Viola nötig sei.

Der Musik- und Theaterwissenschaftler Clemens Risi bezog sich auf die Arbeit am Mythos Medea und stellte die Sängerin Iano Tamar in der Neuinszenierung der Oper von Cherubini/Hoffmann durch Ursel und Karl-Ernst Herrmann in Berlin vor und – als personifizierten Mythos Maria Callas mit einem Filmbeispiel. Er vertrat wie der von ihm zitierte Lévi-Strauss die Meinung, dass die Gesamtheit aller Fassungen zum Mythos gehöre. Wenn die Arbeit an der Oper als Arbeit am Mythos verstanden wird, gehe es nicht um Werktreue und das Finden der einzigen authentischen Fassung, sondern es lägen Materialien vor – Partituren, bekannte, musikgeschichtlich einzuordnende Aufführungen – und wegen der Unabschließbarkeit des Mythos wird jede geglückte Neuinszenierung den Mythos weiterschreiben.

In der Diskussion standen die Meinungen, ob die Neuinterpretation ei-nes Werkes oder nur die Neuschaffung eines Werkes den Mythos weiterschreiben könne, kontrovers nebeneinander. Theatermacher kamen zu Wort, die einerseits die Authentizität von Texten wünschten und dafür ein neues Zeitverständnis kultivieren wollen – zum Beispiel zwölf- bis achtzehnstündige Aischylos-Aufführungen mit altgriechisch gesprochenen Hexametern – andererseits dafür auf der Suche nach neuen Räumen sind – die „alten Häuser“ des 19. Jahrhunderts seien nicht geeignet, Fabrikhallen bereits in den 80ern verbraucht worden, die Eventkultur habe bereits jedes Ambiente besetzt – wo sollen neue Werke mit mythischen Themen aufgeführt werden? Das Theater ist dazu da, Regeln zu brechen. Die Gesellschaft muss sich diesen Luxus leisten. Dazu braucht es aber auch die Künstler, die ihre Ideen durchzusetzen vermögen. Anscheinend ist das Klaus Zehelein in Stuttgart gelungen, während ein Kritiker, der die Münchner Aufführungen kennt, dort nur zeitgenössische Eintagsfliegen erkennen konnte, bei denen, außer beim Premierenpublikum der Insider, das Interesse nicht vorhanden sei.

Nachdenkliche Stimmung am Ende der Tagung. Den Teilnehmern bleibt die Gewissheit, dass zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen der unsterbliche Mythos eine Verbindung schafft.

Limpe Fuchs

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