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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 47
55. Jahrgang | September
Oper & Konzert
Weiter nach Osten geöffnet
Junge Musiker aus China, Syrien und Israel beim Festival Young.Euro.Classic
„Dieses Orchester gibt es eigentlich gar nicht.“ Die
Schauspielerin Jenny Schily war Patin für einen Klangkörper,
der sich erst wenige Tage zuvor konstituiert hatte und dennoch keine
Luftnummer war: das Campus-Orchester China-Europa. Nun saßen
die jungen Musiker aus Shanghai, Tschechien, Polen und Deutschland
auf dem Podium des Konzerthauses Berlin und spielten zusammen ein
anspruchsvolles Programm. Campus-Projekte, bei denen Mitglieder
zweier Orchester aufeinandertreffen, gehören zu den Spezialitäten
des Festivals Young.Euro.Classic. 2004 hatte es mit der Begegnung
von Letten und Spaniern begonnen, ein Jahr später fortgesetzt
– ebenfalls noch mit Kommunikationsproblemen – mit Deutschen
und Russen. Die besten Ergebnisse zeigten sich in diesem Jahr, obwohl
die größte geografische und kulturelle Entfernung zu
überwinden war.
Konzertierten trotz Ausnahmesituation:
oben ein junger israelischer Geiger, unten ein syrischer
Musiker. Foto: yec/Kai Bienert
Trotz dieser Distanz der Kulturen waren die Voraussetzungen besonders
gut. Europa war repräsentiert durch das von Christoph Altstaedt
geleitete Junge Klangforum Mitte Europa, in dem ohnehin schon drei
Nationen mitwirken, und China durch das Orchester des Konservatoriums
Shanghai, das kein Geringerer als Muhai Tang leitete. Als ehemaliger
Chef der Königlichen Philharmonie von Flandern und der Finnischen
National-oper Helsinki ist Tang, der 1983 bei den Berliner Philharmonikern
debütierte, mit dem europäischen Musikleben bestens vertraut.
Das zeigte er mit dem Schwung und der Detailgenauigkeit, mit der
er Mendelssohns Italienische Symphonie musizieren ließ. Das
Orchester, in dem jeweils ein Chinese und ein Europäer nebeneinander
saßen, hatte zuvor unter Leitung des 26-jährigen Altstaedt
kaum weniger überzeugend Prokofieffs Symphonie Classique und
das anspruchsvolle Doppelkonzert für zwei Streichorchester,
Klavier und Pauken von Bohuslav Martin interpretiert.
Der hohe Anteil zeitgenössischer Musik, ein Kennzeichen dieses
Orchesterfestivals, ging in diesem Jahr leicht zurück. Eine
löbliche Ausnahme machte ausgerechnet das Campus-Orchester,
das zwei Auftragswerke zur Uraufführung brachte. Die ansprechende
Komposition „Xi“ (Dämmerung) von Mingwu Yin bestand
aus flirrenden Klangflächen, die – korrespondierend zur
solistischen Streichlaute Zhong-hu –periodisch an- und abschwollen
und in der Stille verschwanden. Dagegen experimentierte die mährische
Rihm-Schülerin Katerina Ruzicková in „Schwebung“
mit dem Übergang von Klang in Rhythmus. Dass ein solches Programm
in nur sechs Probentagen so präzise realisiert werden konnte,
beweist die enorme Integrationskraft, die die Jugendorchesterkultur
inzwischen weltweit besitzt. Auf die Ovationen im ausverkauften
Saal folgte als Zugabe noch Glinkas Ouvertüre zu „Ruslan
und Ludmilla“, von Muhai Tang mit Showeffekt präsentiert.
Die Verbindung zum Fernen Osten, vor allem nach China, entspricht
Deutschlands wirtschaftlichen Interessen. Die Energie Baden-Württemberg
AG sprang deshalb als Sponsor für das Campus-Projekt ein. Politisch
nicht weniger wichtig, jedoch komplizierter ist der Kontakt zum
Nahen Osten. Noch vor dem Philharmonie-Gastspiel des West-Östlichen
Divan Orchesters unter Barenboim und dem Auftritt der Tehe-ran Sinfonietta
im Schloss Neuhardenberg spielte bei Young.Euro.Classic das Hochschulorchester
aus Damaskus sowie das Symphonieorchester der Buchmann-Mehta School
of Music Tel Aviv. Die Künstler aus Damaskus, darunter auch
Musiker aus dem Libanon, aus Palästina und aus Jordanien, hatten
nur dank der Intervention des syrischen Botschafters anreisen können.
Es war überhaupt die erste internationale Tournee des noch
unerfahrenen Ensembles, das unter der Leitung von Missak Baghboudarian
neben Werken von Antonio Vivaldi, Peter Tschaikowsky und Aram Khatchaturian
nicht weniger als drei deutsche Erstaufführungen bot. Mehr
als die konventionell wirkenden Kompositionen von Dia Succari und
Solhi Al Wadi interessierte wegen der Rhythmik und wegen des hauchigen
Klangs des Soloinstruments das 2004 entstandene Konzert für
Nai-Flöte und Orchester von Shafi Baddreddin.
Der 1972 in Beirut geborene Komponist hat sich auf arabische Instrumente
spezialisiert und spielt selbst die Kurzhalslaute Oud. Sein Nai-Konzert,
das traditionsreichste und modernste Werk des Programms, erhielt
den stärksten Beifall. Das achttausendjährige Damaskus,
das war an diesem vom DeutschlandRadio Kultur live übertragenen
Konzert zu erfahren, ist stolz auf seine eigenen Traditionen, die
es als ebenso „klassisch“ empfindet wie die europäische
Klassik.
Ganz europäisch gab sich dagegen zum Abschluss des Festivals
das israelische Symphonieorchester. Anders als beim syrischen Gastspiel
durfte man hier erst nach Sicherheitskontrollen das Konzerthaus
betreten. Dominique Horwitz, der Pate des Abends, machte in seiner
Begrüßung El Quaida dafür verantwortlich. Es sei
keine günstige Situation für Konzerte, denn es drohe die
Vernichtung des Staates Israel. Auch mehrere der gespielten Werke
verdeutlichten die Ausnahmesituation. „Shearim“, das
neue Stück von Alona Epshtein, war vor allem eine von den Bratschen
getragene Trauermusik. Von Bedrohung sprach auch Béla Bartók
1939 im Mittelsatz seines Divertimento für Streichorchester
sowie Maurice Ravel 1919 in seinem Orchesterwerk „La Valse“.
Unter Leitung von Zeev Doorman spielten die blutjungen, hochprofessionellen
Musiker diese Werke trotzig und scharf, allerdings ohne weitere
Finesse.
Einen merkwürdigen Kontrast zu diesen Katastrophenstücken
bildete in seinem jubelnden Grundton Robert Schumanns Konzertstück
für vier Hörner und großes Orchester. Unter den
exzellenten Solisten war auch der Erste Solo-Hornist des Israelischen
Philharmonischen Orchesters, das eng mit dieser Musikhochschule
kooperiert. Vielleicht wollte man mit dem selten gespielten Werk
neben Schumanns Todestag auch auf die guten Beziehungen zu Deutschland
verweisen. Immerhin gehört Josef Buchmann, der Frankfurter
Immobilien-Milliardär, zu den wichtigsten Förderern der
Hochschule. Als Hommage an das Gastland wirkte auch die Zugabe,
die mit warmem „deutschen“ Klang gespielte Oberon-Ouvertüre.
Zum Abschluss wurde wieder der Preis der Publikumsjury verliehen,
hochtrabend als „Europäischer Komponistenpreis“
bezeichnet. Trotz der finanziellen Beteiligung des Landes Berlin,
die Beachtung verdient, hätte sich für eine solche Auszeichnung
eigentlich nicht der Regierende Bürgermeister von Berlin engagieren
sollen, sondern die Europäische Union. Diese ist trotz der
Schirmherrschaft des Parlamentspräsidenten Fontelles längst
als Förderer des Festivals ausgestiegen. Den diesjährigen
Preis erhielt der norwegische Komponist Magnar Åm für
sein Orchesterstück „Es ist nicht Schnee, der fällt,
sondern wir, die vom Boden abheben“, das sich – so die
Jury – „durch die Konzentration der Mittel und das Gefühl
für den Raum“ auszeichne. Wieder gab es täglich
lange Warteschlangen an den Konzertkassen. Dreizehn der insgesamt
fünfzehn Konzerte waren komplett ausverkauft. Allerdings sah
man unter den knapp 24.000 Besuchern weniger Jugend als in den Anfangsjahren.
Ob dies an der leichten Erhöhung des einheitlichen Eintrittspreises
lag?