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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 10
55. Jahrgang | September
Cluster
Berliner Syndrom
„Unter dem Stockholm-Syndrom versteht die Wissenschaft ein
psychologisches Phänomen, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein
positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen.
Es kann sogar darin münden, dass Täter und Opfer sich
ineinander verlieben oder kooperieren“, liest man in der Internet-Enzyklopädie
Wikipedia. Hier liest man den 2. Berliner Appell vom Deutschen Musikrat.
Zwölf Thesen zum interkulturellen Dialog. Die scheinen mehr
oder weniger inspiriert, auf jeden Fall hilf- und sprachlos, wo
nicht gar sinnlos. Neben allerlei pastoralem und professoralem Geläute
steht da etwa zum Thema Sprachkompetenz: „Der Kompetenzerwerb
zur Beherrschung der deutschen Sprache in allen Ausbildungsstufen
ist auch und gerade in der Musik Voraussetzung für Verstehen
und Verständigung.“ Von was? Um solche Sätze zu
verstehen? Da bleibt man schlicht verständnislos. Die gesamtgesellschaftliche
Entwicklung im Blick habend, „appelliert der Deutsche Musikrat
an die Politik und die Zivilgesellschaft, sich für Toleranz
und Verständigung einzusetzen ...“ Wenigstens die haben
den Durchblick, immerhin. Doch mit der Toleranz kommt man nicht
so weit, siehe Stockholm-Syndrom. Im Gegenteil, Toleranz ist nur
die aufgehübschte Sprach-Variante für einen Blick von
oben – nur hier von unten. „Toleranz unterstreicht die
Willkür, mit der sie geübt wird; sie ist ein Herrschaftsprivileg
wie die Gnade,“ schrieb einmal Lothar Baier und er ergänzte:
„Der Begriff der Toleranz ist ein Herrschaftsbegriff, der
sich der Übertragung auf Verhältnisse demokratischer Gleichberechtigung
sperrt.“ Aber vielleicht fehlt uns Kritikern schlicht der
„Kompetenzerwerb zur Beherrschung der deutschen Sprache.“