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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 11
55. Jahrgang | September
Forum
Dünne Stimmen, dicke Stimmen
Leserbrief zu Verena Rein: Was ist Mozart-Gesang? (nmz 7-8/2006,
S. 28)
Verena Rein betrachtet die Gesangspraxis „Anfang und Mitte
des 20. Jahrhunderts und teilweise noch bis in die 70er-Jahre hinein“
offenbar als vorbildlich. Aber ist das die Praxis des 18. Jahrhunderts?
Aufnahmen des beginnenden 20. Jahrhunderts zeigen noch ein ganz
anderes Gesangsideal als das, welches nach dem Ersten Weltkrieg
aufkam: schlanke, unforcierte Stimmen mit einem schnellen Vibrato,
das eher eine Lautstärken- als eine Tonhöhenschwankung
ist. Aber auch das dürfte sich vom Ideal der Mozartzeit bereits
unterscheiden. Jene bekannte Aussage Mozarts zum Vibrato wird von
Rein unvollständig zitiert: „die Menschenstimme zittert
schon selbst – aber so – in einem solchen Grade, daß
es schön ist – daß ist die Natur der Stimme“.
Liest man weiter, dann heißt es: „so bald man aber über
die schrancken geht, so ist es nicht mehr schön – weil
es wieder die Natur ist. da kömts mir just vor wie auf der
orgl, wenn der blasbalk stost.“ Was meint Mozart mit „in
einem solchen Grade, daß es schön ist“ beziehungsweise
mit „über die schrancken“? Fast alle Quellen, die
sich vor etwa 1920 (!) zum Gesangsvibrato äußern, erwähnen
es entweder als eine Verzierung, die nur gelegentlich anzubringen
ist, oder verurteilen es. Nur um 1600 gibt es italienische Quellen,
die von einem leichten „tremolo“ sprechen, das Zacconi
als „succinto, & vago“ beschreibt, und in deren
Folge Michael Praetorius 1619 von einer „liebliche(n) zitternd
bebende(n) Stimme (doch ... mit besonderer moderation)“ spricht
– was noch einige spätere deutsche Quellen übernommen
haben.
Das Mozart-Zitat ist in seiner Zeit jedoch eine Ausnahme, was ehrlicherweise
nicht verschwiegen werden sollte. In einem Leserbrief kann ich nicht
all die Zitate anführen, die ein Vibrato kritisieren bzw. eine
feste, nicht schwankende Stimme fordern (vgl. dazu meinen Aufsatz
„Zur Rolle des Gesangsvibratos in der abendländischen
Musikgeschichte“; in: Concerto 164, Juni 2001, 19–24
u. 165, Juli/Aug. 2001, 13ff.). Die wenigen Quellen, die ein Vibrato
befürworten, können jedenfalls nur ein leichtes, für
ungeschulte Ohren wohl kaum wahrnehmbares dynamisches Vibrato gemeint
haben, dem man noch ein Verzierungsvibrato aufsetzen konnte. Doch
selbst unter den Alte-Musik-Spezialistinnen und -Spezialisten gibt
es nur vereinzelte, die fast ohne Vibrato singen. Leider ist es
noch immer die Regel, dass der historischen Aufführungspraxis
im Orchestergraben ein ganz anderer Gesangsstil auf der Bühne
gegenübersteht; das gilt auch für die meisten CD-Einspielungen
mit historischen Instrumenten. Die Autorin spricht von „der
Hinwendung zum sogenannten Barockgesang unsrer Zeit, mit seiner
Vorliebe für sehr schlanke, manchmal sogar dünne Stimmen
und damit verbunden leider häufig auch Ausdruckslosigkeit,
Gefühlsarmut, Sterilität“. Ausdruckslosigkeit, Gefühlsarmut
und Sterilität quasi mit einer schlanken, oder wie es Rein
auch pejorativ ausdrückt, „dünnen“ Stimme
gleichzusetzen, ist unangebracht. Eine „dicke“ Stimme,
die dann wohl das Ideal der Autorin darstellt, hat meist Schwierigkeiten
bei den Koloraturen und verunklart die Vokale; und wenn sie vibriert,
dann gilt dies um so mehr. Ein Tonhöhenvibrato macht auch eine
reine Intonation unmöglich, was insbesondere im Ensemble mit
anderen Sängern negativ auffällt. Mir scheint, Rein verwechselt
Ausdruck mit Überspanntheit und Lautstärke. Ist nicht
die Verschmelzung zweier vibratolos geführter Stimmen in reinen
Terzen oder Sexten in einem Liebesduett viel passender und ausdrucksvoller
als ein Nebeneinanderhersingen in unterschiedlichen Vibratofrequenzen
und -amplituden? Eine schlichte, klare, vibratoarme, artikulatorisch
deutliche und dynamisch flexible Wiedergabe hat für mich weitaus
mehr Ausdruck als das Dauervibrato einer Netrebko oder Bartoli,
eines Domingo oder Villazon. „Moderner“ Gesang mag ein
Publikum, dem es um athletische Leistungen geht, begeistern –
aber kann er rühren? Liegt in der Musik nicht genügend
Ausdruck, so dass man diesen herbeizittern und herbeischreien muss?
Klarinettisten spielen traditionell ohne Vibrato – wirft man
ihnen deshalb Ausdrucksarmut vor?
Bei aller Unterschiedlichkeit der Geschmäcker: Der heute,
auch in der sogenannten historischen Aufführungs-praxis, vorherrschende
Gesangsstil ist gewiss nicht der, mit dem die Komponisten des 18.
und 19. Jahrhunderts (und davor) ihre Musik aufgeführt wissen
wollten. Es ist schade, dass der Artikel von Verena Rein die wenigen
Sängerinnen und Sänger diskreditiert, die sich um eine
adäquate Interpretation älterer Musik bemühen.