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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 17
55. Jahrgang | September
Hochschule
Vom Mythos Darmstadt
Dresdner Studentenexkursion zur Frühjahrstagung des INMM
Ein paar Schritte die Anhöhe hinauf hinter der Akademie für
Tonkunst, in der die Frühjahrstagung des Instituts für
Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt heuer ihrem 60. Lenz entgegensah,
trifft der Besucher auf Niemandsland. Umzäunt erstreckt sich
auf großer Fläche ein Stützpunkt der US-Armee; riesige
Übungsplätze, Kasernen, Schilder, die herrisch Zutritt
verweigern, und eine Holzbaracke, die als Pizzeria herhalten musste.
All das dermaßen leer, dass man jederzeit darauf gefasst ist,
den öden Wind eines John-Ford-Westerns im Gesicht spüren
zu können. Die wahren Kriegsschauplätze sind zurzeit scheinbar
anderswo. Aber hier verlief sie einmal, die Trennlinie zwischen
Schwarz und Weiß, hier war Ja und dort war Nein, dort der
Horizont, hier die Orientierung. In den letzten 17 Jahren ist die
Demarkationslinie zu ganzen Feldern geworden, alles darf scheinbar
betreten und damit abgegrast werden, aus dem Schwarz-Weiß
entwickelt sich ein je nach Sichtweise bunter oder grauer Farbton.
Wenn die Enge und das unbedingt Weite parallel laufen, um sich
in der Unendlichkeit zu schneiden, ist es nahe liegend, eine Jubiläums-Tagung
zu Themen künstlerischer Gestaltungen dem Thema der „Wege
im Pluralismus der Gegenwartsmusik“ zu widmen. In diesem Zusammenhang
ließ sich die Hoffnung vernehmen, Reife und jugendliche Frische
miteinander zu verbinden. Diesen Wunsch zunächst auch äußerlich
Gestalt werden zulassen, machte sich eine Gruppe durch die Frühlingssonne
gestärkter Studentinnen und Studenten der Dresdner Musikhochschule
auf, um ihre jugendliche Reife in den Dienst der Welt des Unbekannten
zu stellen. Pluralistisch in Motivation und Erwartung, war man doch
in jedem Falle gefasst, sich mit dem Unbekannten auseinandersetzen
zu können. Anlässe dafür gab es sowohl auf inhaltlichen
Gebieten, als auch durch die Gegenwart so mancher Grandseigneurs
der Neuen Musik. Da konnte um das von Harry Lehmann umrissene Konzept
der „Zweiten Moderne“ gestritten werden, oder im Angesicht
Hans Zenders die größtenteils andächtigen Studenten
ein Hauch der Geschichte der neuen Musik umwehen. Bestnoten in den
Bereichen Unterhaltungswert, Selbstpräsentation und Unantastbarkeit
mussten dabei in diesem Jahr an Claus-Steffen Mahnkopf verliehen
werden. Viele Stimmen ließen sich vernehmen, die über
den hohen Anteil an studentischer Präsenz erfreut waren –
eine immer noch zu geringe Anzahl angesichts der Ausrichtung und
des Potentials dieser Tagung: pädagogische Impulse zu erhalten,
ein Rüstzeug für den Umgang in der Vermittlung zeitgenössischer
Musik zu erwerben, ein flammendes Plädoyer für eine durch
nichts als durch den Menschen selbst zu rechtfertigende Kunst zu
erleben, Referenten mit studentisch unbefangenen Fragen behelligen
zu dürfen, Personen gegenüber zu sitzen, die die heutige
Kunst mitprägen, um etwas von ihrem Menschsein erfahren und
somit die Namen von Notenmaterialien und CD-Titeln mit konkretem
Leben füllen zu können.
Der Treffpunkt Darmstadt ist gerade zur Frühjahrstagung kein
Geheimbund für Komponisten und Musiktheoretiker, sondern bietet
jedem Musiker, der vier Tage auf das Üben im stillen oder lauten
Kämmerlein zu verzichten bereit ist, die Möglichkeit,
den Blick zu weiten; natürlich hat so eine musikbetrachtende
Tour de force Durchhänger, darin nicht unähnlich dem Studienalltag,
natürlich glaubt man nach dem dritten Tag, dass es nun Zeit
wäre, die Tagungsstätte niederzubrennen und endlich die
Institutswiese schlafender- oder spielenderweise ganztägig
in Besitz zu nehmen. Aber man wird ein besserer Musiker sein.
Ein junger Pianist fragte einmal Johannes Brahms: „Meister,
wie kann ich ein noch besserer Musiker werden?“ Der so Angesprochene
konnte nur antworten: „Üben Sie täglich zwei Stunden
weniger und lesen dafür ein gutes Buch!“ Eine Darmstädter
Tagung kann wie ein gutes Buch sein. Und das Prinzip des Mythos
ist Wiederholung.