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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 1
55. Jahrgang | September
Leitartikel
Ein Jahrhundertsprung in fünfzehn Jahren
Die Staatsoper Stuttgart unter ihrem Spiritus rector Klaus Zehelein
· Von Gerhard Rohde
Es wird oft geklagt: Die Oper habe keine Zukunft mehr. Das Stammpublikum
sei überaltert und sterbe langsam, aber sicher weg. Die Jugend
interessiere sich nicht mehr besonders für Opas Dampfoper.
Eine neue Politikergeneration schon gar nicht. Diese schielt vor
allem auf so genannte Events. Salzburger Festspiele mit Anna Netrebko
ja, das eigene Stadttheater kann doch gut mit weniger Subventionen
auskommen.
Diesen grassierenden Tendenzen gilt es energisch entgegenzutreten.
In Opernaufführungen landauf, landab sieht man durchaus Jugendliche,
und zwar erfreulich viele. Und bei einigen Politikern setzt allmählich
hier und dort ein Umdenken ein: Die Musik scheint für Menschen
jeden Alters, besonders aber für Heranwachsende, doch nicht
ganz so überflüssig zu sein. Wenn sich die Situation also
allmählich zum Positiven ändern sollte, wird der Ball
sozusagen zurückgespielt: zu den Kulturschaffenden. Sie müssen
durch ihre Arbeit beweisen, was Kunst, Musik, Theater, Literatur,
auch Film und andere neue Medien, für das Leben der Menschen
bedeuten können. Das gewinnt quasi eine existentielle Dimension.
Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, so in etwa sagte es Nietzsche.
Der Anlass für derlei Überlegungen ist ein konkreter:
Klaus Zehelein verlässt nach fünfzehn Jahren die Staatsoper
Stuttgart. In dieser Zeit hat er als Intendant das Haus zu einem,
genauer: zu dem führenden Opernhaus nicht nur in Deutschland,
sondern in Europa gemacht. Das Geheimnis Zeheleins ist dabei gar
keines gewesen: Man kann Opern einfach aufführen, hübsche
Bühnenbilder, gute Sänger, ordentliches Orchester (Wiener
Philharmoniker), aber man kann auch erst einmal darüber nachdenken,
warum man ein Werk und wie am besten aufführt, was das Spannende,
Zeitlos-Aktuelle, geistesgeschichtlich Relevante bei einer bestimmten
Oper ist.
Das Nachdenken braucht dabei nicht das Opernkulinarische verdrängen.
Auch der Geist kann sinnlich sein, Intelligenz schadet auch der
Oper nicht. Im Gegenteil: Die Oper selbst ist doch seit mehr als
vierhundert Jahren ein Ergebnis hochreflexiver Überlegungen,
die Vereinigung aller Künste im Theater, von Monteverdi bis
Lachenmann und bis zu den jüngsten Komponisten, die mit den
neuen medialen Ausdrucksmitteln die Gattung Oper bereichern.
Es hieße die bekannten Eulen in die griechische Hauptstadt
tragen, würde man jetzt penibel aufzählen, was in der
Ära Zehelein an der Stuttgarter Oper alles geschehen ist. Wer
die Arbeit Zeheleins bewerten will, muss ein wenig zurückblenden,
in die Zeit, als der in Frankfurt am Main geborene Adorno- und Habermas-Schüler
mit dem Dirigenten Michael Gielen den Stil der „Gielen-Oper“
entscheidend prägte. Zehelein war der dramaturgische Kopf des
Unternehmens, Gielen die musikalische Autorität. Das hohe Ansehen
der Frankfurter Oper war sicher mit ein Grund, dass sich Stuttgart
danach für Zehelein als Intendant entschied. In Stuttgart formte
Zehelein sozusagen das Frankfurter Modell konsequent weiter aus.
Präzis durchdachte Aufführungen des traditionellen Repertoires
(wichtig die italienische Oper), intensiver Einsatz für die
Moderne – Luigi Nonos „Al gran sole“ und „Intolleranza“,
Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“
avancierten zu Modellaufführungen –, aber auch eine höchst
ergiebige Erkundungsfahrt zurück zu den Opernquellen, zu Monteverdi,
Händel, Gluck, brachten hinreißende Erlebnisse, die Geist
und Seele gleichermaßen berührten.
Zehelein hatte dabei das Glück, in Lothar Zagrosek einen kongenialen
Mitstreiter als Generalmusikdirektor zu gewinnen sowie eine Reihe
wichtiger ständiger Regisseure, wie Martin Kusej, Jossi Wieler
oder Peter Konwitschny Und in Pamela Rosenberg die Spürnase
für Sänger, die dafür sorgte, dass in Stuttgart auch
das Zentrum der Oper nicht aus dem Blick geriet: der Gesang.
Die vielleicht zukunftsträchtigste Tat Zeheleins war die
Einrichtung eines Forums für Neues Musiktheater. In einem eigenen
Haus draußen in Cannstatt im Römerkastell konnten Komponisten
und Musiker, Regisseure, Videokünstler, Tänzer und Bühnenbildner
an der Zukunft der Oper arbeiten. Ein höchst produktives Laboratorium,
das jeweils am Ende einer Arbeitsphase das Ergebnis der Öffentlichkeit
vorstellte. Die Zukunft dieser Institution ist nach Zeheleins Abgang
nicht gesichert. Es geht wieder einmal um Finanzielles. Nachdem
Stuttgart mit seiner Oper, mit dem „Éclat“-Festival
und, in diesem Jahr, dem IGNM-Weltmusikfestival zu einer Art Welthauptstadt
der Neuen Musik aufgestiegen ist, wird man doch nicht wegen einer
vergleichsweise kleinen Summe die Existenz des wichtigen Musiktheater-Forums
aufs Spiel setzen. Andere Städte signalisieren bereits Interesse
an Zeheleins Erbschaft.
Zehelein selbst zieht sich nicht in den Ruhestand zurück. Als
Präsident der Bayerischen Theaterakademie wird er auf dem Thron
August Everdings darüber wachen, dass dem deutschen Theater
nicht von uneinsichtigen Kräften die Luft zum Atmen genommen
wird. Das Stuttgarter Opernmodell aber muss weiter in die Zukunft
wirken.