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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 7
55. Jahrgang | September
Magazin
Neue Klänge, neue Bilder
Musiktheater von Romitelli und Estrada beim ISCM-Festival in
Stuttgart
Bei vielen Festivals Neuer Musik konstatiert man eine wachsende
Neigung vor allem jüngerer Komponisten zur Visualisierung ihrer
Musik. Videobilder korrespondieren mit Klängen, szenische Aktionen
kontrapunktieren komponierte Gesten. Oft entsteht aus solchen Interaktionen
so etwas wie ein neues Musik-Theater, absichtlich mit Koppelung
geschrieben, weil Musik und Theater gleichwertig miteinander kommunizieren.
Auch beim Stuttgarter ISCM-Festival standen einige musiktheatralische
Produktionen im Mittelpunkt des Interesses. Über die Werke
von Fausto Romitelli und Julio Estrada wird im folgenden berichtet.
Über Younghi Pagh-Paans Adaption von Sophokles’ „Ödipus
in Kolonnos“ in ihrem ersten Bühnenwerk „Mondschatten“,
über Dror Feilers und Hamed Taheris „Avenir! Avenir!“
sowie über die Aufführungen der NewMediaPocketOpera, des
Centre for Research in Opera and Music Theatre Sussex, des Steim
Amsterdam und von Tempo Reale Florenz soll in der nächsten
nmz-Ausgabe in anderem Zusammenhang berichtet werden.
Ko
Murobushi als tanzender Toter: magisch-morbides Bild aus
Julio Estradas „Murmullos del páramo“.
Foto: R. Bulgrin
Man könnte Schiller zitieren: „Wer zählt die Völker,
nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen?“ In jedem
Jahr veranstaltet die Internationale Gesellschaft für Neue
Musik in einem jeweils anderen Mitgliedsland ihr Weltmusikfestival.
Fast 50 Nationen gehören der ISCM (International Society for
Contemporary Music) inzwischen an, von Argentinien bis Venezuela,
von Australien bis zu den Vereinigten Staaten. Das erste ISCM-Festival
fand übrigens 1923 in Salzburg statt. Bis auf die Kriegsjahre
gab es in der Abfolge keine Unterbrechung. In Deutschland war das
Weltfestival zuletzt vor elf Jahren im Ruhrgebiet zu Gast.
Jetzt versammelten sich in Stuttgart rund 200 Komponisten aus fast
60 Ländern zum ISCM-Festival 2006, das bis zum 29. Juli ging.
In 70 Veranstaltungen repräsentierten sie einen bemerkenswert
großen Querschnitt durch das, was heute in der globalisierten
Welt an Musik oder mit Musik verbundenen anderen Künsten und
Medien komponiert, oft auch nur hergestellt oder montiert wird.
Die Stuttgarter Gastgeber und das engagierte „Musik der
Jahrhunderte“-Team mit Christine Fischer an der Spitze fanden
bei der Themensetzung für das Festival einen höchst aktuellen,
dabei auch vieldeutig belichtbaren Titel: „grenzenlos“
bezeichnet die Möglichkeiten gegenwärtiger Musik, in der
ganzen Welt, nicht zuletzt wegen der technischen und medialen Entwicklungen,
wahrgenommen zu werden (Krisenregionen ausgenommen).
Mussten einst deutsche oder niederländische Komponisten zum
Studieren nach Italien reisen, um zu erfahren, was dort an Musik
entstand, so kann man sich heute in den neuen Medien über alles
ausreichend schnell informieren.
Diese rasche Verfügbarkeit, die Schnelligkeit, mit der man
sich informieren kann, birgt für den einzelnen Künstler
aber auch Gefahren. Wie bringt er sich als autonome Persönlichkeit
in das System ein? Könnte er seine Individualität bei
so vielen äußeren Einwirkungen bewahren, wenn er nicht
seine eigene Handschrift überhaupt erst einmal ausprägen
müsste? Die Fragestellungen gehen weiter. Welche Rolle spielt
noch das Nationale in der Musik? Nicht im Sinne von formaler nationaler
Zugehörigkeit des Komponisten, sondern im Hinblick auf die
emotionale Dimension, in die ein Künstler gestellt ist. Ist
Hans Werner Henze durch seinen langen Aufenthalt in Italien zum
italienischen Komponisten geworden? Solche Fragen könnte man
auch in die Vergangenheit zurückspielen, zum Beispiel bis zu
Händel: englisch, deutsch, italienisch? Das „alte Europa“
war in der Kunst oft viel „grenzenloser“ als das heutige.
In Stuttgart wird über diese Themen intensiv gesprochen,
und wie notwendig das ist, erfährt man dann in den Konzerten,
in denen manche der gespielten Werke doch sehr etüdenhaft anmuten.
Die Schwierigkeiten eines abendlandfernen Komponisten, sich mit
einem „westlichen“ Instrumentarium individuell und auch
noch original auszudrücken, sind wohl oft größer
als man denkt. Komponisten wie Isang Yun oder Toshio Hosokawa gibt
es nicht in jedem Jahrgang.
Manche Missverständnisse erwachsen auch aus Unduldsamkeit.
Der mexikanische Komponist Julio Estrada, Sohn spanischer Einwanderer,
1943 geboren, brachte als deutsche Erstaufführung sein Musiktheaterstück
„Murmullos del páramo“ nach Stuttgart. Es entstand
nach dem Roman „Pedro Páramo“ des Mexikaners
Juan Rulfo (1918 bis 1986). Das auch in deutscher Übersetzung
erschienene Werk reflektiert in der tradierten Form eines Totentanzes
den gesellschaftlichen Niedergang Mexikos. Die handelnden Personen
in dem kleinen verödeten Dorf sind allesamt schon tot, auch
der Erzähler, der Sohn des einstigen indianischen Ortsvorstehers,
des Kaziken Pedro Páramo, ist schon gestorben. Mit List und
Gewalt hatte es Pedro zum reichen und mächtigen Mann gebracht.
Juan Rulfos Roman zeichnet eine weite epische Gestik, eine lakonische
Knappheit des Erzählstils aus, auch eine Härte und Schärfe
des Blicks für sein Land. Mit der so genannten Blut-und-Boden-Thematik
hat das nichts zu tun, was in Stuttgart manche Besucher missverstanden
haben. Julio Estrada wiederum erkannte, dass ein Musiktheater auf
den Roman nicht zu einer der üblichen Literaturveroperungen
führen durfte. Für ihn galt es, die Inhalte des Buches,
das Atmosphärische, das Absterbende, die Verzweiflung der Figuren,
in Musik, in Klänge, Geräusche, Stimmlaute zu fassen.
Ein magischer Klangraum mit 16 Lautsprechern nimmt die Figuren auf:
Kontrabass (Stefano Scodanibbio), Posaune (Mike Svoboda), Gitarre
(Magnus Andersson) und ein Sho-Spieler (Ko Ishikawa) sowie ein „Geräuschemacher“
(Llorenc Barber) vereinigen sich mit den flüsternden, wortlosen
Gesprächen der Dorfbewohner (Neue Vokalsolisten Stuttgart)
und der „Stimme“ einer einzelnen Frau (Fátima
Miranda), die zu Beginn den Sohn des Kaziken ins Dorf zurücklockt.
Estrada, der unter anderen bei Messiaen, Stockhausen, Ligeti und
Xenakis studierte (auch Akustiktheorie und Musique concrète)
und bei einem Aufenthalt bei den Hopi-Indianern in Arizona die Tänze
und die Musik der Ureinwohner kennen lernte, hat fast 15 Jahre an
seinem Musiktheater gearbeitet.
In der Inszenierung Sergio Velas bewegen sich die Figuren in einem
oft diffus ausgeleuchteten, fast kahlen Raum, wie in einem magischen
Ritual, das durch einen silberfarben bemalten Butôh-Tänzer
(Ko Murobushi) zusätzlich eine bizarre Note erhält: Der
Tänzer stellt den toten Pedro Páramo dar. Estradas „Gemurmel“
(„Murmullos“) fasziniert durch die kompositorische Dichte,
die Plastizität der Klänge und Geräusche. Aber die
Klänge besitzen auch etwas Bildhaftes, drängen förmlich
zur szenischen Visualisierung. Das war in Stuttgart sehr gut herausgearbeitet.
Da die Neue Musik seit geraumer Zeit immer stärker zur szenisch-optischen
Erweiterung drängt (kaum ein Neue-Musik-Festival kommt mehr
ohne wie auch immer gestaltetem Musiktheater aus), mochte man auch
beim ISCM-Festival nicht darauf verzichten. Im Forum Neues Musiktheater
der Stuttgarter Staatsoper erlebte man als deutsche Erstaufführung
Fausto Romitellis Video-Oper „An Index of Metals“. Romitelli,
der vor zwei Jahren mit vierzig Jahren starb, versuchte in seiner
„Oper“, Klang und Bild ins jeweils andere Ausdrucksmedium
zu überführen, um dann aus bildlichem Klang und klingendem
Bild über Computertransformationen eine Einheit zu gewinnen.
Ob der Zuschauer/Hörer dabei, wie erhofft, in eine „neue
Wahrnehmungswelt“ gleichsam wie in Trance eintritt, muss jeder
für sich beurteilen. An plakativer Wucht fehlt es dem Stück
nicht. Außerdem stellt man mit Befriedigung fest, dass der
Live-Beitrag des Ensembles musikFabrik sich letztendlich zwingender
als die anderen medialen Ausdrucksträger durchsetzt: Die vorwiegend
abstrakten Video-Imaginationen von Paolo Pachini und Leonardo Romoli
laufen wie eine Begleitbebilderung neben den Klängen her, die
Korrespondenzen bleiben oberflächlich. Musik und Video: ein
weiterhin ungelöstes Problem.