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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 4-5
55. Jahrgang | September
Magazin
„Es gibt bei Mozart immer noch viel zu entdecken“
Ulf Werner im Gespräch mit dem künstlerischen Leiter
der Kammerphilharmonie Amadé, Frieder Obstfeld
In der Kammerphilharmonie Amadé haben sich im Sommer 1997
junge Musikerinnen und Musiker aus ganz Eu-ropa zusammengeschlossen.
Unter der Leitung von Frieder Obstfeld treffen sie sich in laufender
Projektarbeit, um Musik vom Barock bis zur Moderne aufzuführen.
Die Kammerphilharmonie Amadé konzertierte mit Solisten wie
Ida Haendel, Bruno Leonardo Gelber, Michala Petri, Sharon Kam, Sergio
Fiorentino, Gilles Apap und dem Raschèr Saxophone Quartet.
Das Orchester folgte bislang Einladungen zum Internationalen Beethovenfest
Bonn, zum Schleswig-Holstein Musik Festival, zum Festival „Toujours
Mozart“ in Salzburg und Wien, zu den Niedersächsischen
Musiktagen und den Musikfestspielen Saar. Das Orchester spielte
auf Einladung des Nordrhein-Westfälischen Ministerpräsidenten
beim NRW-Forum in Tokio sowie beim Festival „Ars Cameralis“
im polnischen Katowice. Im Mai dieses Jahres war das Ensemble zu
Konzerten und Workshops in Kapstadt, Johannesburg, Soweto und Bloemfontein
beim Internationalen MIAGI-Festival in Südafrika eingeladen.
Frieder
Obstfeld und die Kammerphilharmonie Amadé. Foto:
Kammerphilharmonie Amadé
Vielbeachtete CD- und Rundfunk-Produktionen, eine eigene Abonnement-Reihe
in NRW und außergewöhnliche Projekte wie Haydns „Sieben
letzte Worte“ mit Eugen Drewermann und „Mordnacht Mozart“
mit Herbert Feuerstein runden das Bild des Ensembles ab. Leider
führt die als ungenügend zu bezeichnende öffentliche
Förderung des Ensembles, trotz der unstrittigen hohen Qualität
ihrer Konzerte und der wichtigen Bereicherung der Musikszene, zu
einer kontinuierlichen Unterfinanzierung. Wann wird endlich auch
von den kulturpolitisch Verantwortlichen erkannt, dass sich das
Musikleben gerade durch die Arbeit freier Ensembles innovativ, phantasievoll
und zukunftsträchtig entwickeln kann? Darüber hinaus bieten
in Zeiten stark zurückgehender Orchesterstellen bei den deutschen
Kulturorchestern freie Ensembles vielen hoch qualifizierten Absolventen
deutscher Musikhochschulen eine berufliche Heimat. Wie lange noch?
Ulf Werner: Wenn man einen Blick auf das Repertoire
der Kammerphilharmonie Amadé wirft, so stellt man fest, dass
Sie mit dem Orchester Musik aller Epochen vom Barock bis heute aufführen.
Sie haben andererseits mit dem Namen des Ensembles Ihre Arbeit unter
das Patronat Mozarts gestellt. Inwieweit bildet Mozart einen besonderen
Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit?
Frieder Obstfeld: Für mich ist Mozart sicher
ein, wenn nicht der Höhepunkt in der abendländischen Musik.
So erscheint es mir natürlich, dass er am häufigsten in
unseren Programmen vertreten ist. Erstaunlicherweise spielen viele
Werke aus Mozarts Schaffen jedoch auch heute noch im Konzertleben
kaum eine Rolle. Die frühen Sinfonien, Meisterwerke wie die
„Lodronischen Nachtmusiken“ oder das Divertimento KV
334 – wie viele Hörer, wie viele Musiker kennen diese
Musik? Es gibt also bei Mozart immer noch viel zu entdecken. Aber
da ist auch ein anderer, wenn Sie so wollen pädagogischer Aspekt,
der mir wichtig ist: Wenn es darum geht, ein Mozart-Menuett oder
ein Haydn-Adagio zu spielen, stelle ich bei vielen Musikern eine
gewisse Befangenheit fest. Gerade das scheinbar Einfache dieser
Musik ist offensichtlich besonders schwer darzustellen. Es eröffnet
sich aus dem Geist der späten Romantik oder aus der Moderne
kein Zugang zu Mozart oder Haydn. Umgekehrt aber: Der Musiker, der
den Weg zu Mozart, zu Haydn gefunden hat, wird auch Brahms oder
Tschaikowski besser verstehen und spielen. Eigentlich bezieht sich
ja fast die gesamte mitteleuropäische Musik bis hin zu Bartók,
Strawinsky, Schönberg auf ihre Blütezeit, die Wiener Klassik.
Werner: Würden Sie sich als Spezialist für
die Wiener Klassik bezeichnen?
Obstfeld: Nein, der Begriff des Spezialisten
führt geradewegs ins Abseits. Es mag sein, dass fast jeder
Musiker eine besondere Affinität zu einem bestimmten Komponisten
hat. Aber deshalb auf den Reichtum und die Vielfalt des gesamten
Spektrums zu verzichten, wäre sicher eine Verarmung.
Werner: Wie schwer ist es, bei Werken, mit denen
schon jeder Zuhörer und erst recht jeder Musiker viele Hör-erfahrungen
gemacht und deshalb konkrete Vorstellungen im Kopf hat, noch kreativ
zu sein und etwas Neues zu entdecken?
Obstfeld: Das scheint ein Problem zu sein. Aber
machen wir uns doch einmal frei von dem Anspruch, um jeden Preis
originell sein zu wollen! Es ist ja heute Mode, Musik „gegen
den Strich zu bürsten“. Das ist dann oft keine Interpretation,
sondern Design. Es mag sein, dass sich manche Kritiker dafür
interessieren, auch der intellektuelle Snob stellt sich gern auf
die Seite dieser „Erneuerer“. Aber wir gehen alle letztlich
dabei leer aus. Das wirklich Neue ist das unmittelbar Erlebte, auch
wenn es schon tausendmal auf ähnliche Weise gesagt und getan
worden ist.
Werner: Um eine klare Interpretation mit den Musikern
zu realisieren, muss doch jeder Instrumentalist eine übereinstimmende
Vorstellung vom Klang, von der Phrasierung, von der Bogenführung
et cetera haben. Wie erreichen Sie das bei einer noch immer starken
Fluktuation der Musiker.
Obstfeld: Erst einmal dadurch, dass ich in mir
selbst diese genaue Vorstellung entwickle. Das ist ein langwieriger
Prozess, der ja bis in die Klangbildung und die Wahl der Bogenstriche
und Fingersätze reicht. Den Prozess der Vorstellungsbildung
machen dann die Musiker in verkürzter Form in den Proben auch
durch, allerdings ohne sich auch nur annähernd so quälen
zu müssen, wie ich es manchmal tue. Denn natürlich mache
ich während des Partiturstudiums erst einmal genau die gleichen
Fehler, die u u ich später bei den Musikern anprangere. Auch
ich hänge am Anfang oft in diesen Klischees, schrecklich! Das
sind sozusagen „pubertäre“ Stadien, die durchzumachen
vielleicht sogar notwendig ist. Wichtig ist aber, sich damit nicht
zufriedenzugeben, sondern weiterzuarbeiten, bis es die Musik ist,
die spricht.
Werner: Sie führen immer wieder auch Streichquartette
in einer Fassung für Streichorchester auf, neben der Originalbearbeitung
der „Drei Sätze aus der Lyrischen Suite“ durch
den Komponisten Alban Berg auch Übertragungen von Beethovens
„Großer Fuge“ oder des Quartetts op. 95. Das G-Dur-Quintett
von Brahms und das Verdi-Quartett haben Sie auf CD eingespielt.
Wie kann ein Streichorchester diesen intimen und hochkomplexen Kammermusikwerken
gerecht werden?
Obstfeld: Da ist zunächst die Herausforderung.
Denn das Streichorchester sollte hier eben nicht wie ein Orchester
klingen, sondern eher wie ein Quartett. Nun kann man einwenden,
dass sich damit diese Fassungen ad absurdum führen, dass es
doch vollkommen genügt, sie in ihrer Originalfassung zu belassen
und als reines Quartett aufzuführen. Diesem Einwand kann man
eigentlich nur beipflichten. Aber das Ergebnis unserer Versuche
und der anderer Ensembles ist doch immer wieder unter einem sozialen
Aspekt sehr berührend. Zwanzig Streicher spielen ein Quartett
– das verlangt höchste Konzentration und äußerste
Behutsamkeit. In diesem Miteinander entsteht eine große soziale
Wärme, denn wirklich alle sind bei diesem Drahtseilakt aufeinander
angewiesen. Hinzu kommt, dass man diese Musik eigentlich gar nicht
dirigieren kann. Es ist so, als wenn sich das Orchester und der
Dirigent in diesem Moment selbst aufheben und eine neue Form entsteht,
die ich mehr erahne, als dass ich sie begrifflich beschreiben könnte.
Und hören Sie auf den Klang: Wenn fünf Geiger die erste
Geigenstimme spielen und durch intensive Arbeit eine große
Homogenität erreicht haben, werden sie wie eine einzige Geige
klingen und doch auch wieder nicht. Der Klang ist weniger individuell,
mehr universell. Trotz gewisser Einbußen in der Flexibilität
und im Tempo erreicht man so etwas wie eine neue Objektivität,
die zum Beispiel dem „späten Beethoven“ gut ansteht.
Beim Verdi-Quartett mit seinen opernhaften Elementen kommt die Streichorchesterfassung
Verdis Absichten vielleicht sogar näher als die originale Version.
Verdi selbst hat sein Quartett in Köln orchestral aufgeführt.
Ein anderer Fall ist Bergs „Lyrische Suite“ –
sie ist ja fast unspielbar. Wenn aber das scheinbar Unmögliche
gelingt, haben Sie mehr Expressivität, mehr Wärme. Auch
können Sie die dynamischen Pole weiter auseinanderziehen. Es
ist sehr schade, dass Berg nicht das vollständige Quartett
für Streichorchester eingerichtet hat. Wenn wir auch mit unseren
Versuchen bisher nicht ganz zufrieden waren, wollen wir sie doch
fortsetzen. Sie machen einfach zu viel Freude!
Werner: Das Orchester veranstaltet seit vielen
Jahren ein eigenes Festival, die Sommerlichen Musiktage Soest. Das
Programm des Festivals ist mit Orchesterkonzerten, Kammermusik und
Kinderkonzerten inzwischen weit gefächert. Was bedeutet das
Festival für Sie und Ihre Musiker?
Obstfeld: Es ist für mich persönlich
die schönste Zeit des Jahres, denn ich habe fast zwanzig Jahre
in dieser wunderschönen Kleinstadt in Westfalen gelebt. So
freue ich mich jedesmal, dahin zurückzukehren. Und ich glaube,
diese Freude teilen alle Musiker, die dorthin kommen. Denn Soest
ist im Sommer einfach unwiderstehlich.
Wir haben damals 1991 mit drei Konzerten sehr klein angefangen
und was die Anzahl der Konzerte betrifft, sind die Sommerlichen
Musiktage mit sechs Konzerten bis heute auch klein geblieben. Überhaupt
ist der Rahmen sehr intim. Wir spielen in einer Kirche aus dem 12.
Jahrhundert, Alt-St. Thomae, von den Soestern auch „Schiefer
Turm“ genannt, die nach ihrer Zerstörung im Krieg auch
heute noch etwas vom Charakter einer Ruine hat. Die Kirchengemeinde
ist sehr entgegenkommend und so können wir dort aufführen,
was wir wollen. So haben die Soester in den 90er-Jahren die europäische
Erstaufführung der 1944 in Theresienstadt komponierten „Ouverture
für kleines Orchester“ von Hans Krasa erlebt. Vor allem
aber erinnere ich mich an die denkwürdige Wiederaufführung
des „Cornet“ von Rilke in der Vertonung von Viktor Ullmann
durch Gerd Westphal und Michael Allan. Dieses Melodram war zuvor
ein einziges Mal, nämlich 1944 in Theresienstadt unmittelbar
vor Ullmanns Ermordung aufgeführt worden. Viele Musiker, die
ich bewundere, sind zu uns nach Soest gekommen:
Edith Picht-Axenfeld, Hansheinz Schneeberger, Gerhard Schulz und
seine Frau Lilia Bayrova, Robert Brooks, Michala Petri, Gilles Apap,
der unvergleichliche Pianist Sergio Fiorentino und viele andere.
Agnes Giebel gab hier als über 70-Jährige einen unvergesslichen
Schubert-Abend. Es sind viele Freundschaften entstanden, nicht nur
zwischen uns Musikern, sondern auch zu den Gastfamilien. Ich bin
den Soes-tern für diese Möglichkeit, mit Freunden und
Gleichgesinnten zu musizieren, sehr verbunden.
Werner: In den vergangenen Monaten ist die Kammerphilharmonie
Amadé vermehrt auch im Ausland aufgetreten, so in Tokio,
in Polen und noch im Mai beim MIAGI-Festival in Südafrika.
Dort haben die Musiker auch Workshops für die Jugendlichen
in den Townships von Kapstadt sowie in Soweto und in Bloemfontain
abgehalten. Wie wichtig ist Ihnen dieser vermittelnde Aspekt der
musikalischen Arbeit?
Obstfeld: MIAGI bedeutet ja: Music Is A Great
Investment. Die Begeisterung der jungen Menschen für die abendländische
Musik ist nahezu grenzenlos, aber die Bedingungen, unter denen die
Menschen dort leben müssen, sind einfach furchtbar und es ist
sehr schwer, das eine vom anderen zu trennen. Die Musik kann die
Gegensätze für einen Moment des Atmens überbrücken,
aber zur Veränderung der Verhältnisse wird sie dauerhaft
doch nur beitragen können, wenn man im Denken entsprechende
Schritte vollzieht und sich einmal fragt, wozu wir die Musik eigentlich
haben. Solange das Geldsystem die Menschen ungleich macht, ist auch
die Musik nicht an ihrem eigentlichen Platz angekommen.