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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 3
55. Jahrgang | September
Magazin
„Ohne Komponieren kann ich doch nicht leben“
Ein Porträt zum 100. Geburtstag von Dmitrij Schostakowitsch
· Von Egbert Hiller
„Hören Sie doch meine Musik, da ist alles gesagt“,
entgegnete Dmitrij Schostakowitsch dem vielfachen Ansinnen, er möge
sich über sein Leben äußern, Memoiren schreiben
oder wenigstens seine Werke erläutern. Doch der russische Komponist
hüllte sich über die Motive seines Schaffens weitgehend
in Schweigen – was verständlich ist vor dem Hintergrund,
dass kaum ein Tonkünstler dem politischen Klima seiner Zeit
so sehr unterworfen war wie er; schmal war der Grat zwischen überschwänglicher
Anerkennung und der Verfemung als „Formalist“: So erhielt
er für seine siebte Sinfonie (1942) den Stalin-Preis erster
Klasse, während die neunte Sinfonie (1945) von „Prawda“
und ZK als „manieriert“ und „frivol“ gebrandmarkt
wurde; erwartet hatte man eine Hymne auf das siegreiche Ende des
Zweiten Weltkriegs, stattdessen entzog sich Schostakowitschs Neunte
mit kammerorchestraler Disposition lärmendem Pathos, ja, mit
satirisch-grotesken Elementen, vor allem im Finale, karikierte sie
gar den – zumindest indirekt – geforderten affirmativen
Tonfall.
Das
Schaffen ist vom Leben nicht zu trennen – und ragt
doch darüber hinaus: Dmitrij Schostakowitsch. Foto:
F. Timpe
Dagegen war in seinen frühen Jahren vom „gestörten
Verhältnis“ zu den Machthabern und deren kulturpolitischen
Maßgaben noch kaum etwas zu bemerken. Einen Überraschungserfolg
brachte ihm die 1926 – noch am Moskauer Konservatorium –
entstandene erste Sinfonie ein, mit der er zugleich seine Eigenständigkeit
unterstrich, indem er Korrekturen seines wichtigsten Lehrers Alexander
Glasunow bei der Drucklegung unberücksichtigt ließ. Ein
„Wunderkind“ war Schostakowitsch freilich nicht, und
will man einem autobiografischen Abriss aus dem Jahre 1927 Glauben
schenken, widmete er sich dem Musikunterricht zunächst nur
widerwillig. Dies sollte sich aber rasch wandeln; indes, nicht nur
Schostakowitsch veränderte sich, sondern auch sein gesellschaftlich-kulturelles
Umfeld. War Russland in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
– die russische Revolution 1917 erlebte Schostakowitsch als
11-Jähriger – noch Motor neuer künstlerischer Entwicklungen
(etwa des „Konstruktivismus‘“ in der Bildenden
Kunst), so stellte sich die Situation wenige Jahre später ganz
anders dar. Die „Konstruktivisten“, und nicht nur sie,
fielen in Ungnade, da Lenin einen traditionalistischen Realismus
favorisierte. Und mit der Machtübernahme Stalins spitzte sich
die Lage weiter zu: Innovative Konzepte wurden als dem „sozialistischen
Menschenbild“ zuwiderlaufend und mithin als westlich dekadent
oder „formalistisch“ diffamiert. Erregte Diskussionen
löste bereits Schostakowitschs „groteske“ Oper
„Die Nase“ (1928) aus; vollends in die Mühlen der
Kulturbürokratie geriet er dann mit „Lady Macbeth von
Mzenszk“ – nach Stalins Besuch einer Aufführung
(er verließ sie in der Pause) charakterisierte die Prawda
(„Chaos statt Musik“, 28. Januar 1936) das Werk als
„grob, primitiv und vulgär“.
Die schöpferische Antwort
Darauf musste Schostakowitsch reagieren, er musste zurückweichen
und Selbstkritik üben, war dies doch auch eine Frage (nicht
nur) des künstlerischen Überlebens. In einem Zeitungsbeitrag
(„Meine schöpferische Antwort“) vom 25. Januar
1938 äußerte er sich spitzfindig zu seiner fünften
Sinfonie, deren strukturelle Disposition er erheblich einfacher
gestaltete, ohne freilich die Individualität und Vielschichtigkeit
seiner Tonsprache gänzlich verleugnet zu haben: „Wenn
es mir tatsächlich gelang, in das durchgehend lyrische Werk
all das hineinzulegen, was ich nach den kritischen Artikeln der
Prawda durchdacht und empfunden habe, kann ich zufrieden sein.“
Zudem ist es wohl kein Zufall, dass in zeitlicher Nähe zum
Wirbel um „Lady Macbeth“ sein erstes von 15 Streichquartetten
entstand, kann die Hinwendung zu dieser Gattung doch als Rückzug
auf ideologisch weniger heiß umkämpften Boden und in
die schützenden Gefilde akademischer Traditionen verstanden
werden. Sticht in der formalen Stimmigkeit des ersten Quartetts
(1938) noch die Orientierung an neoklassizistischen Idealen hervor
und dominiert im zweiten (1944) volkstümlicher Tonfall, so
sind diese Ansatzpunkte im – von radikaler Linearität
und stark erhöhter Ausdruckskraft geprägten – dritten
Quartett (1946) allenfalls noch untergründig spürbar.
Dass es dennoch nicht als „formalistisch“ verworfen
wurde, lag zum einen eben an der geringeren Beachtung der Gattung
überhaupt, hing zum anderen aber auch mit „klingenden
Täuschungsmanövern“ Schostakowitschs zusammen –
denn mit der ans Dämonische grenzenden Parodie eines preußischen
Parade-Stechschritts im dritten Satz und dem als visionäre
„Heldenverehrung“ deutbaren Finale lenkte er von „konstruktivistischen“
Tendenzen ab. Diese Doppelbödigkeit verweist auf die Komplexität
von Schostakowitschs Wesen und Schaffen, auf seinen Balanceakt zwischen
Kompromiss und Selbstverwirklichung, auf den Zwiespalt zwischen
seinem Streben nach Anerkennung und der Flucht in die innere Emigration.
Und obwohl sich die kulturpolitischen Wogen nach Stalins Tod (1953)
ein wenig glätteten, blieben die „Wunden“ frisch,
wie einer Reportage von Gerd Ruge („Interview mit Schostakowitsch“,
in: „Musik und Szene“, Theaterzeitschrift der Deutschen
Oper am Rhein, 4. Jg., 1959/60, Nr. 5) zu entnehmen ist: „Schostakowitsch
ist ein kleiner, grauhaariger Mann mit schmalem Gesicht und nervös
umherirrenden Augen. Während ich ihm Fragen stelle, blickt
er mich starr, wie hypnotisiert an. Wenn er antwortet, blickt er
im Zimmer herum, fährt sich ständig mit zitternden Händen
durch das kurze Haar, reibt sich die Augenbrauen, setzt die Brille
auf und ab. Er spricht schnell und dennoch oft stockend, so als
kontrolliere er sich bei jedem Satz, um ja nichts Falsches zu sagen.
(…) Er ist ein gehetzter Mann, und vielleicht erklärt
sich daraus jene Nervosität, die dem Besucher wie Unsicherheit
vorkommt. Vielleicht ist er tatsächlich ganz zufrieden damit,
dass ihn die Partei vom ‚Irrweg des Formalismus’ zurückholte
– als eine strenge und harte Lehrerin, die zu strafen, aber
auch zu belohnen und zu verzeihen weiß. Niemand kann sagen,
was ihn diese Entscheidung gekostet hat, und niemand kann wissen,
was hinter dem zuckenden Gesicht vorgeht.“
Abschied und Rückzug
Abstrakter und subtiler als seine Opern, Sinfonien und Instrumentalkonzerte
spiegelt seine Kammermusik persönliche Beweggründe und
künstlerische Entwicklungsprozesse wider. Herausragend in diesem
Zusammenhang ist neben den Quartetten die Sonate für Violine
und Klavier op. 134 von 1968 – sein einziges Werk für
diese Besetzung. Schostakowitsch schrieb es zum 60. Geburtstag des
Geigers David Oistrach, dem er ein Jahr zuvor irrtümlich (aufgrund
eines Rechenfehlers?) zunächst sein Violinkonzert Nr. 2 zugeeignet
hatte. Was eher anekdotisch anmutet, hatte jedoch einen ernsten
Hintergrund, denn im Mai 1966 erlitt Schostakowitsch einen schweren
Herzinfarkt, der einen mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt –
und einen langen Leidensweg bis zu seinem Tod am 9. August 1975
in Moskau – nach sich zog. Erst Anfang 1967 verspürte
er überhaupt wieder kreative Impulse, stilistisch leitete er
in der Folge einen tief greifenden Wandel zu Reduktion und Konzentration
der musikalischen Mittel ein – und dies schlug sich nicht
nur in der fahlen Leuchtkraft der Sonate op. 134, sondern auch im
wachsenden Einfluss der (allerdings nicht streng gehandhabten) Zwölftontechnik
nieder. Während sein Ruhm in den 1960er- und 70er-Jahren stetig
wuchs, wandte er sich im Gegenzug zwangsläufig mehr und mehr
von der Welt ab – so ist das ein Jahr vor seinem Tod entstandene
15. Quartett vollends von Abschied, Trauer und Resignation beherrscht.
Es formiert sich ausschließlich aus ineinander fließenden
Adagios; Satzstrukturen und thematisches Material sind extrem karg
und deuten solcherart auf Rückzug und Selbstauflösung.
„Wahrscheinlich sollte ich nicht mehr komponieren. Aber ohne
Komponieren kann ich doch nicht leben“, bemerkte Schostakowitsch
bereits 1971 anlässlich seiner 15. und letzten Sinfonie. Zwar
bezog sich diese Aussage auf seinen bedenklichen Gesundheitszustand,
dennoch scheint in ihr zugleich ein existenzieller Grundkonflikt
auf. Und wenn sein Schaffen einerseits von seinem Leben nicht zu
trennen ist, so ragt es andererseits doch weit darüber hinaus.
„Hören Sie doch meine Musik, da ist alles gesagt“,
heißt eben auch – zumal aus heutiger Sicht, aus der
historischen Distanz –, dass Schostakowitschs Werke vor allem
für sich selbst sprechen können und sollen.