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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 43
55. Jahrgang | September
Bücher
Über Paternalisten und verkappte Rassisten
Christian Broeckings Interviews mit afroamerikanischen Jazzmusikern
Christian Broecking: Black Codes,
Verbrecher-Verlag, Berlin 2005, 140 S., € 13,00, ISBN 3-935843-60-7
Jung, männlich, Migrationshintergrund, in Deutschland geboren.
Zusammen genommen die besten Voraussetzungen, um im Abseits zu landen.
Gesellschaftlicher Aufstieg? Schwierig bis nahezu unmöglich.
Pisa und diverse soziologische Studien bringen es seit einigen Jahren
regelmäßig an den Tag: Menschen mit den genannten Kriterien
haben es in unserer Gesellschaft enorm schwer, einen sicheren Job/Beruf,
geschweige denn eine gesellschaftliche Stellung zu erlangen. Sie
gehören oft einfach zu den Verlierern. Schule(n) und pädagogische
Infrastruktur sind also – auch das eine wiederkehrende Erkenntnis
der Forschungen – darauf ausgerichtet, Teile unserer Gesellschaft
aufgrund ihrer sozialen, kulturellen, mittelbar ihrer ethnischen
Herkunft wegen zu benachteiligen, sie auszusondern. Ist das bereits
eine subtile Form des Rassismus? Wohl eher nicht. Hautfarbe und
Herkunft stehen nicht im Vordergrund der negativen Auslese und es
trifft auch Nachwuchs, der mit anderen Merkmalen zur Welt gekommen
ist.
Was das mit Christian Broeckings Interviewband „Black Codes“
zu tun hat? Auf den ersten Blick nichts, geht der Berliner Journalist
doch den tiefwurzelnden Spuren nach, die Sklavenhandel und amerikanischer
(Südstaaten-)Rassismus in der afroamerikanischen Kultur hinterlassen
haben. Auf den zweiten und dritten Blick zeigen sich Ähnlichkeiten
in den strukturellen Bedingungen der Diskriminierung und vor allem
in den Auswirkungen und Folgen. Aber, höre ich schon Proteste
von allen Seiten, hier geht es um Jazzmusik, schwarze Amerikaner/-innen
und deren Geschichte. Nun ja, tatsächlich. Das schlicht gehaltene
Bändchen versammelt Interviews mit Superstar Wynton Marsalis,
der Organistin Amina Claudine Myers, den Sängerinnen Shirley
Horn, Abbey Lincoln, Cassandra Wilson und Dianne Reeves, Amiri Baraka,
Gil Scott-Heron, der Poetin Jayne Cortez, Stanley Crouch und Oscar
Brown jr., die der Berliner Publizist zwischen 1994 und 2005 für
diverse Zeitungen und Verlage geführt hat. Allesamt unter dem
Aspekt entstanden, dass die Erfahrung des Rassismus bis heute eine
wie auch immer geartete Rolle im Leben und damit im Werk, in der
Kunst dieser einflussreichen Repräsentanten afroamerikanischer
Kultur spielt. Die „black codes“ sind im übertragenen
Sinn zu verstehen, als die untergründigen Schichtungen in der
gesprochenen und der musikalischen Sprache. Ursprünglich waren
es Verfassungszusätze einiger südlicher Bundesstaaten,
mit denen die freigelassenen Sklaven gezwungen wurden, weiterhin
unter höchst rigiden Vorschriften zu leben. Auch nach der Erkämpfung
der vollen Bürgerrechte existier(t)en Beschränkungen der
Freiheit und des persönlichen Bewegungsraumes darüber
hinaus fort. Auf anderen Ebenen natürlich und in anderer Form.
In seinen klug aufgebauten Interviews, die von viel Sachkenntnis
und Fingerspitzengefühl, Cleverness und Respekt vor der individuellen
und künstlerischen Integrität zeugen, versucht Broecking,
diesen rassistischen Vorzeichen beizukommen. Nicht in allen Fällen
gelingt ihm das gleich gut. Leicht machen es ihm der Publizist Stanley
Crouch und Jazz-At-Lincoln-Center-Leiter Marsalis, deren Haltungen
und Ansichten zum Jazzgeschehen heftig umstritten sind. Kein gutes
Haar lässt Marsalis an den meisten Kritikern, die ihmzufolge
„alte Paternalisten, verkappte Rassisten [sind], die es lieben,
wenn sie uns [den schwarzen Musikern, Anm.] den Kopf streicheln
können, und nicht begriffen haben, dass diese Zeiten vorbei
sind.“ Dann beschreibt er die Erfolge in der Erziehung und
Bildung von Kindern, die mit einem mit Hilfe der Louis Armstrong
Stiftung entwickelten Lehrplan die „Geschichte unserer Musik“
weitergibt. Eine gescheite Sache, um Talente wachzukitzeln, zu fördern
und benachteiligten Kindern zu helfen, in ihrer Entwicklung weiterzukommen.
Das allerdings ist in Amerika bestimmt in vielen Regionen und Bevölkerungskreisen
dringend geboten. Genauso dringlich wären solche positiven
Ansätze – gerade auch mittels Musik und musischer Erziehung
– ebenso in vielen unserer Schulen. Aber darüber schreiben
andere.