[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 43
55. Jahrgang | September
Bücher
Damit Geschichte nicht Geschichte bleibt
Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte der musikalischen Bildung
Karl Heinrich Ehrenforth: Geschichte der musikalischen
Bildung. Eine Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte in 40 Stationen.
Von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart, Schott,
Mainz 2005, 554 S., € 62,00, ISBN 3-7957-0502-9
Mit seiner Geschichte der musikalischen Bildung hat Karl Heinrich
Ehrenforth die Summa seines über vierzigjährigen Lernens
und Lehrens als Musikpädagoge und Hochschullehrer vorgelegt.
Der mit übersichtlichen Zeittafeln, Abbildungen und Verzeichnissen
ansprechend ausgestattete Band lädt in vierzig historischen
Stationen, verteilt auf zehn Kapitel, nicht nur zum Schmökern,
sondern auch zum weiterführenden Studium ein. Ehrenforth, ein
Grandseigneur der deutschen Musikpädagogik, spricht eine breitere
Fachöffentlichkeit und Studierende geisteswissenschaftlicher
Fachrichtungen ebenso an wie interessierte „Laien“ und
lässt teilhaben an seiner Darstellung und Sichtweise von musikalischer
Bildungsgeschichte. Dabei ist er sich dessen bewusst, dass er selbst
bloß zeitweiliger Schauspieler bei der „Aufführung“
des Stückes „Musikalische Bildung“ ist und vom
„Standort mitten im Fluss der Geschichte“ (S. 42) das
Unmögliche versucht: Aussagen zu treffen, die eigentlich nur
vom objektiveren Standpunkt des Ufers aus möglich wären.
In dem Streben nach Objektivität und umfassender Darstellung
versucht Ehrenforth aus kultur- und ideengeschichtlicher Perspektive,
dem Manko der bisherigen musikpädagogischen Historiographie
abzuhelfen, die oft zu sehr auf die (deutsche) Schulmusik beschränkt
bleibt oder eben historisch zu begrenzt und – letztlich mehr
oder weniger willkürlich – erst bei der Verschriftlichung
der Musik im 8. Jahrhundert oder gar erst um 1800 mit Pestalozzis
Idee von Bildung für alle ansetzt.
Wenngleich Ehrenforth seinen Gang durch die Geschichte der musikalischen
Bildung bei den Ursprüngen außereuropäischer Früh-
und Hochkulturen beginnt, wird bald deutlich, dass sein eigentlicher
Fokus auf dem jüdisch-griechisch-christlichen Kulturraum und
zuletzt im deutschen Sprachraum liegt – eine fortschreitende
Verengung, die Ehrenforth im Vorwort zwar eingesteht, die vielleicht
aber auch im Titel des Buches ihren Niederschlag hätte finden
können. In guter humanistischer Tradition geht der Blick zunächst
zur europäischen Antike, hochinteressant eingeleitet über
die Musiké-Erziehung, dann zu Pythagoras, Platon und Aristoteles
und schließlich zum Hellenismus und nach Rom (Varro, Cicero
und Boethius). Kennzeichnend hier wie im ganzen Buch ist, dass Ehrenforth
nicht nur lineare Entwicklungen (etwa die abnehmende Bedeutung der
Musikerziehung von Platon zu Aristoteles oder die „Verwandlung“
der sophistischen Enkyklios Paideia zu den römischen septem
artes liberales) schlüssig darstellt, sondern dass er auch
immer wieder in querverweisenden „Zeitsprüngen“
(etwa von Platon zu Kepler) Zusammenhänge spannend beleuchtet.
Dabei beugt er unreflektiertem Fortschrittsglauben grundsätzlich
und umsichtig vor, indem er frühere „Entwicklungsstadien“
nicht zugunsten des Neuen beiseite legt, sondern um ihres originären
Gehaltes willen bedenkt und auf lohnende Wertschätzung prüft.
Beispielsweise macht er das Weiterwirken magischer Vorstellungen
des Mythos offenkundig. Trotz dessen Überwindung und „Entwicklung“
zum Logos seit der klassischen Antike (S. 55) und in welcher sich
aufgeklärt dünkenden Zeit auch immer, bleiben diese bis
heute spürbar, etwa in den deutlich kosmogonisch-mythischen
Zügen der naturwissenschaftlich gekleideten These vom Urknall.
Auf solche Weise sein Kernthema überschreitend, vermittelt
Ehrenforth dem Leser eine bereichernde Sicht auf die Zusammenhänge
einer ganzheitlich verstandenen Bildungsgeschichte.
Philosophisch, theologisch und religionswissenschaftlich fundiert
stellt der Autor im Kapitel „Musik im Dienst des jüdisch-christlichen
Gotteslobs“ den Umgang mit dem namenlosen und unsichtbaren
Gott Jahwe im musizierten Gotteslob als über die Jahrtausende
wirkende Weichenstellung für die europäische Musikkultur
und als Wurzel der europäischen musikalischen Bildungs-idee
dar. Hier oder spätestens in der Konsultation von „Weisen
dieser Welt“ (u.a. Origines, Tertullian) und von Augustinus
in zwei Stationen des Kapitels zur Frage „Was ist christliche
Bildung?“ wird Ehrenforths grundlegender Gedanke deutlich:
Zu seinem musikbezogenen Bildungsverständnis, ein Bild von
der Welt, vom Ich und vom Anderen zu gewinnen (S. 522), gehört
die Erkenntnis, dass tieferes Verständnis musikalischer Bildung
nicht möglich ist, ohne ihre Wurzeln in der kultisch-religiösen
Dimension des Menschseins zu erkennen und sie in den Umgang mit
späteren Bildungsansätzen hineinzunehmen. Diese Überzeugung
zieht sich wie ein roter Faden bis ins letzte Kapitel des Buches.
Die Kapitel dazwischen – hier nur angedeutet darstellbar
– führen in Gesellschaft von Benedikt von Nursia, Karl
dem Großen und Alkuin in das Mittelalter, geben Einblicke
in die pädagogische Arbeit der Cantores im fränkischen
Kloster und gelangen über Guido von Arezzo zur Station der
Spielleute, Meister- und Minnesänger und Stadtpfeifer, in deren
Zentrum die Entwicklung eines öffentlichen Bildungsauftrages
steht. Im Kapitel „Aufbruch in die Neuzeit“ werden,
von Luther zu Bach fortschreitend, Stationen quer durch Europa (u.a.
Vivaldis venezianisches Ospedale und die englischen Kathedralschulen)
gestreift. Der kulturkritische Aufbruch Rousseaus, das reformatorische
Wirken Hillers und einschlägige musikalische Lehrwerke der
Zeit bilden die Eckpunkte des Kapitels zum 18. und 19. Jahrhundert.
Auf musikalische Volksbildung, in Goethes „Wilhelm Meister“
(Ehrenforth empfiehlt hier stärkere musikpädagogische
Wertschätzung) formuliert und in der europäischen Singebewegung
konkretisiert, fokussiert das Kapitel zum 19. Jahrhundert im Zusammenwirken
allgemeiner und dezidiert musikalischer Bildungsreformer (Pestalozzi,
Fröbel, Zelter). Das Kapitel zum 20. Jahrhundert mündet
in zwei Essays, die musikalische Bildung im politischen wie kultur-
und bildungstheoretischen Zusammenhang sehen. Vor historischem Hintergrund
formuliert Ehrenforth Stellungnahmen und Schlüsse zu eigenen
Thesen, die eine aktive Positionierung der Leserschaft suchen. Einer
seiner Kerngedanken besagt, dass der Kunst (nicht nur der musikalischen)
gerade in der zukünftigen Wissensgesellschaft ein ebenbürtiger
Platz neben der Wissenschaft einzuräumen sei. Darüber
hinaus aber wird sich, so Ehrenforth, die „tiefenpsychologische
Dignität“ (S. 530) der Musik in der ernsthaften Suche
des Menschen nach Wahrheit in der Selbst- und Welterkenntnis erschließen,
denn ursprünglich Gemeintes lässt sich nicht einfach eliminieren.
Musikalische Bildung ist so mit absolutem Wahrheitsanspruch verbunden
und enthält auch das Plädoyer, Falsches zu entlarven.
Dies ermöglicht nicht nur, die im Prozess der Säkularisierung
bis heute der Musik zugespielte quasi-religiöse Statthalterschaft
zu hinterfragen oder staatsideologischen Missbrauch zu durchschauen,
sondern bei der Orientierung über Herkunft, Ankunft und Zukunft
unserer Musikkultur Perspektiven zurechtzurücken.
Berechtigterweise ist der Autor von der (unausgesprochenen) Hoffnung
getragen, dass die Leserschaft – angesichts der in der globalisierten
Welt immer stärker aufgehenden Schere von technischem Fortschritt
und bedrohtem Humanum – aus der Kenntnis und Diskussion der
Geschichte Lehren für zukünftige Welterfahrung und -gestaltung
ziehen könnte und dass die Musik schließlich motivieren
möge, „aus dem Düsenjet auszusteigen“ (S.
532), damit der Blick nach innen gehen und in neuem, verlangsamtem
Fortschrittsmodus Wesentliches wahrnehmen kann. Hier könnten
Sinn und Zukunft musikalischer Bildung liegen.