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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 38
55. Jahrgang | September
Rezensionen-CD
Der lebendige Mythos
Hans Werner Henze: Aristaeus, Orpheus behind the wire.
Rundfunkchor Berlin, Leitung: Robin Gritton; Rundfunk-Sinfonieorchester
Berlin, Leitung: Marek Janowski; Sprecher: Martin Wuttke.
WERGO 6680-2
Pünktlich zu Hans Werner Henzes 80. Geburtstag am 1. Juli
werden dem großen Alten unter den deutschen Komponisten neue
Ehren zuteil. Das Label Wergo würdigt einen seiner bedeutendsten
Künstler mit der Ersteinspielung des Dramma in Musica „Aristaeus“
(2003) für Sprecher und Orchester sowie dem Chorwerk „Orpheus
behind the wire“.
Ist die Fortschreibung des Mythos um den Sänger Orpheus dabei
das thematisch verbindende Element, so könnten beide Werke
freilich in musikalischer Hinsicht unterschiedlicher kaum sein.
„Orpheus behind the wire“ (1981–83 entstanden)
ist eine Umarbeitung von Henzes Orpheus-Ballett (1978) für
8- bis 12-stimmigen gemischten Chor a cappella nach Gedichten von
Edward Bond.
Die Texte zu dieser in ihrer feinen Linienführung und Chromatik
ungemein spannungsgeladenen Chorkomposition fügen sich ein
in den Kontext von Henzes politisch engagierten Werken. Der mythologische
Stoff von Verlust, Liebe und Entzug wird in Verbindung gesetzt mit
den Gräueltaten der argentinischen Militärregierung –
mit den Worten von Bond „ertönt uns Musik von Orpheus,
von Sieg, von Freiheit“.
Ganz anders hingegen das 2004 uraufgeführte musikdramatische
Orchesterwerk „Aristaeus“. Die von Henze verfasste Geschichte
lebt von der ungemein kontrastreichen Orchestrierung, von der Spannung
zwischen kraftvollen Passagen und intensiven kammermusikalischen
Momenten. Erzählt wird rückblickend aus der Seitenperspektive
des Hirten Aristaeus, der für den Tod von Orpheus’ Gattin
Eurydike verantwortlich ist, dafür aber keineswegs angeklagt
wird.
Die Geschichte wird von einem Sprecher rezitiert und gelegentlich
mit musikalischen Mitteln dramatisiert. Vor, während und nach
den einzelnen Textpassagen verlegt Henze das Geschehen in den Orchesterapparat,
überträgt die Handlung auf einzelne Instrumente, Themen
oder Klangfarben. Entsprechend repräsentiert etwa die Gitarre
– für Henze ein Instrument aus „den Anfängen
der Musik“ und ein „Echolot der Geschichte“ –,
unterstützt durch die Harfe, die Figur des Sängers Orpheus,
der als Person nicht auftritt, sondern nur musikalisch präsent
wird. „Aristaeus“ ist eine von Henzes jüngsten
Kompositionen, die von einer Fülle an musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten
lebt, die elegant und mitunter überraschend miteinander in
Bezug gesetzt werden.
Nicht allein Elemente aus älteren Werken (Orpheus-Ballett,
Sonate für Violine solo, Barcarola) sind darin geschickt mit
neuen Elementen verwoben, sondern vor allem die von Henze immer
wieder heraufbeschworene Verbindung von Musik und Dichtung wird
in ungemein ausdrucksstarker Form praktiziert.