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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 37
55. Jahrgang | September
Rezensionen-CD
Märchenhafte Zeitreisen nach Dresden
Die neue „Edition Staatskapelle Dresden“ bei Hänssler:
Der MDR veröffentlicht Schätze aus seinem Archiv
Der Plattenmarkt wird zurzeit mit einer Fülle von historischen
Aufnahmen überschwemmt. Nicht alle sind eine Bereicherung für
die CD-Sammlung. Bei der „Edition Staatskapelle Dresden“,
einer Koproduktion zwischen dem Mitteldeutschen Rundfunk und Profil
Edition Günther Hänssler, gibt es manches zu entdecken.
Und die eine oder andere Wiederentdeckung von der Elbe hat sogar
das Zeug zur Referenzaufnahme.
Kurz vor den Sommerferien stand das Dresdner Opernhaus wieder einmal
im Zeichen einer großen Schallplattenaufnahme. Der ganze dritte
Akt von Richard Wagners „Meistersingern“, wie ihn die
Dresdner Aufführungen bieten, mit Professor Böhm am Pult,
mit unserer Staatskapelle, unserem Opernchor, unserem Solistenensemble
und zwei namhaften Gästen wurde als dauerndes Denkmal Dresdner
Opernkultur auf 15 Elektrolaschallplatten aufgenommen.“ (Dresdner
Nachrichten 12.10.1938) Man braucht heute Gott sei dank kein Grammophon
mehr und muss auch nicht 15-mal die Schallplatte wechseln, um sich
diese Aufnahme von Wagners „Meistersinger von Nürnberg“
anzuhören. Dank einer Kooperation zwischen Mitteldeutschem
Rundfunk, der Profil Edition Günther Hänssler und der
Sächsischen Staatskapelle Dresden liegt dieser Mitschnitt mittlerweile
auch auf CD vor.
Für die Hörgewohnheiten von 1938 muss die vorliegende
Aufnahme der „Meistersinger“ sensationell geklungen
haben. In einer Rezension aus dem Erscheinungsjahr liest man: „Wir
können nur mit Freude feststellen, dass die Aufnahmen ganz
wirklichkeitsgetreu gelungen sind. Die Technik auf diesem Gebiet
hat sich ja auch ungemein vervollkommnet, und bei den Dresdner Aufnahmen
sind die letzten Errungenschaften dieser Art zur Verwendung gekommen.
So kann man, wenn man sich nun die neuen „Meistersinger“-Platten
auf einem Apparat vorspielen lässt, bei geschlossenen Augen
wirklich glauben, man säße in einer Dresdner Aufführung
des Werkes, und zwar in einer märchenhaft guten.“ Die
ausgezeichnete digitale Bearbeitungstechnik von heute lässt
die legendäre Akustik der alten Semperoper wieder auferstehen.
Schon bei den ersten sonoren Streichertönen des Vorspiels wirft
man sämtliche Vorurteile über historische Aufnahmen über
Bord. Denn die aufgearbeitete Version steht jüngeren Aufnahmen
abgesehen von einem dezenten Rauschen klanglich in erstaunlich wenigen
Punkten nach. In manchem Aspekt wäre man sogar beinahe versucht,
das Gegenteil zu behaupten. Denn die Aufnahme mit einem Röhrenmikrophon
hat einen warmen, aber dennoch klaren Raumklang erzeugt, der sich
angenehm von dem zum Teil recht steril wirkenden Klangideal der
heutigen Zeit abhebt.
Was diese CD aber vor allem so hörenswert macht, ist die hervorragende
Besetzung. Torsten Ralf und Margarete Teschemacher – das Sängerpaar,
das nur wenige Wochen später, am 15.10.1938, in den Hauptrollen
der Uraufführung von Richard Strauss’ „Daphne“
einen stürmischen Erfolg feiern sollten – hört man
hier als Stolzing und Eva. Weitere große Namen wie Hans Hermann
Nissen (Hans Sachs) und Eugen Fuchs (Beckmesser) garantieren höchstes
Niveau, das sich bis zu den kleinsten Partien fortsetzt. Und wenn
man hört, was für ein differenziertes Spektrum an Klangfarben
Karl Böhm mit der Sächsischen Staatskapelle hervorzaubert,
ist das Bedauern umso größer, dass damals nur der dritte
Akt aufgenommen worden ist.
„Nur“? Obwohl die Opern Richard Wagners an der Sächsischen
Staatsoper eine lange Tradition haben, war auch 1938 durchaus keine
Selbstverständlichkeit, dass der gesamte dritte Akt der „Meistersinger
von Nürnberg“ auf Schallplatte aufgenommen wurde. Denn
aufgrund der komplizierten Aufnahmetechnik waren bis dato eher einzelne
Arien oder Opernszenen auf dem wachsenden Schellack-Markt erschienen.
Die Klangmassen der Musik Richard Wagners überhaupt aufzunehmen,
machte erst die Entwicklung der Mikrophonaufnahme möglich.
Trotzdem passten Ende der 30er-Jahre nur dreieinhalb bis vier Minuten
Musik auf eine Seite der Schellackplatten. Magnetbänder steckten
noch in den Kinderschuhen, sodass der Klang auf in speziellen Wärmeschränken
temperierten Wachsplatten aufgenommen wurde. Die Einspielung des
gesamten dritten Aktes der „Meistersinger“ war also
eine echte Sensation. 90 Reichsmark kostete damals die 15 Platten
starke Ausgabe, die in drei weinroten Sonderalben veröffentlicht
wurde.
Eine echte Entdeckung ist auch die zweite Opernaufnahme der „Edition
Staatskapelle Dresden“, ein Mitschnitt der Oper „Rusalka“
aus dem Jahr 1948. Auch hier spürt man wieder, dass sich die
Sänger, die Musiker der Staatskapelle und der Dirigent Jospeh
Keilberth in den zahlreichen Vorstellungen, die der Aufnahme vorausgingen,
aufeinander eingespielt haben. Und wie bei der „Meistersinger“-Aufnahme
ist auch hier die Textverständlichkeit makellos, das Ensemble
mit der legendären Elfride Trötschel in der Titelpartie,
dem jungen Gottlob Frick (Wassermann), dem tenoral strahlenden Helmut
Schindler als Prinz bis hin zu den Elfen absolut erstklassig besetzt.
Dass die Aufnahme auf Deutsch gesungen wird und nicht auf Tschechisch
mag für manchen CD-Interessenten sogar ein Bonus sein. Diese
beiden historischen Opernaufnahmen sind aber nur ein Baustein einer
größeren Serie, die die Kooperationspartner MDR, Profil
Edition Hänssler und Staatskapelle auf den Markt bringen. Eine
Mischung aus aktuellen Mitschnitten und älteren Aufnahmen soll
eine breite Klientel ansprechen: Freunde der Staatskapelle ebenso
wie Sammler historischer Aufnahmen oder Musikinteressierte mit Vorliebe
für einen bestimmten Dirigenten.
Für die Sächsische Staatskapelle gibt es neben der Präsenz
auf dem Tonträgermarkt noch weitere gute Gründe für
diese Zusammenarbeit. Der betreuende Dramaturg Tobias Niederschlag
erläutert: „Es geht darum, die gesamten Rundfunkmitschnitte
der Staatskapelle erstmals zu dokumentieren. Einige dieser Aufnahmen
kursieren auch als Grau- oder Schwarzpressung in verschiedenen Ländern.
Da es ist wichtig, dass sie nun auch ganz offiziell in einer professionell
überarbeiteten Fassung auf den Markt kommen, in der wir klanglich
das bestmögliche Ergebnis präsentieren.“
Gestartet wurde die Serie mit einer aktuelleren Aufnahme von Edward
Elgars erster Sinfonie mit Colin Davis am Pult der Dresdner. Schon
wenige Wochen nach der Veröffentlichung krönte die europäische
Musikzeitschrift „pizzicato“ die CD mit ihrem „Supersonic
Award“ als „Platte des Monats Februar 2006“. Auch
für die später erschienenen Einspielungen unter Colin
Davis ernteten Macher und Interpreten höchstes Lob. So kürte
zum Beispiel das international verlegte Gramophone Magazine in seiner
Juni-Ausgabe zwei CDs der Reihe („Vol. 4: Felix Mendelssohn
Bartholdy. Sinfonien 3 & 5“ und „Vol. 5: Jean Sibelius,
Sinfonie Nr. 2“) mit der hochkarätigen Auszeichnung „Critic’s
Choice“.
Was die „Edition Staatskapelle Dresden“ außerdem
auszeichnet, ist eine feinfühlige Auswahl des Repertoires.
„Kassenschlager“ wie die Violinkonzerte von Tschaikowsky
und Mozart sind die Ausnahme (obwohl auch diese Aufnahme mit David
Oistrach und Franz Konwitschny am Pult überaus hörenswert
ist!). Es sind eher Werke am Rande des Kernrepertoires, die im Mittelpunkt
der Edition stehen. Und wichtige Zeitzeugnisse, wie der Mitschnitt
der deutschen Erstaufführung von Dmitrij Schostakowitschs 4.
Sinfonie am 26. Februar 1963 durch die Staatskapelle Dresden unter
Kyrill Kondraschin. Mit dem eigenen, besonderen Klang der Dresdner
Staatskapelle als verbindendem Element, mit hochkarätigen Solisten
und Dirigen-ten ist diese Reihe eine echte Bereicherung für
jede CD-Sammlung.
Die Aufnahmetradition der Sächsischen Staatskapelle reicht
übrigens bis Mitte der 20er-Jahre zurück. Das macht neugierig
auf die Fortsetzung der CD-Edition. Auf der Agenda der nächsten
Jahre stehen Projekte wie der Mitschnitt von Beethovens C-Dur Messe
anlässlich des 25-jährigen Kapelljubiläums von Colin
Davis (2006). Die Aufnahme von Hector Berlioz‘ „Te Deum“
aus der Dresdner Kreuzkirche von 1998, ebenfalls mit Colin Davis
am Pult. Oder eine Einspielung von Leoš Janáceks „Katja
Kabanova“ aus dem Jahr 1949.