[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 38
55. Jahrgang | September
Rezensionen-CD
Kleine Fluchten vor der Herbsttristesse
Neue Veröffentlichungen populärer Musik
Alles vorbei nun. WM, Sommer, Sonne, Papstbesuch. Relikte bleiben:
Abgerissene Fahnen, immer noch schwankende Patrioten. Glaubende
Ungläubige. Die Tristesse kehrt zurück. Wir wachen auf,
stellen ernüchtert fest, wie es uns in den letzten Wochen erging.
Steuern rauf, Einkommen runter, Kriege werden geführt. Flucht
unmöglich. Und wenn, dann musikalisch. Bitte jetzt losrennen:
Der „BBC Radio 1“ DJ Rob Da Bank hat sich alle Tracks
der „Folk Off“-Kompilation selbst ausgesucht. 30 Volltreffer.
Die Nu-Folk Bewegung hat einfach Reife und Charme. Während
die eine Künstlerschar ihre Songs weiter aufmotzt und hoch
technisiert, gehen Künstler wie Laura Cantrell, Sufjan Stevens,
Tunng, Magnetophone oder Animal Collective die Einbahnstraße
entlang. Natürlichkeit ist Trumpf, die Reduktion wird zur Essenz,
die Sinnlichkeit zur Muse, die Einfachheit zur Mode. Wer sich einen
ersten, informativen Überblick der Szene verschaffen möchte,
muss hier zugreifen.
Kai-Uwe Kolkhorst aus Lüneburg hat seine Gitarre, samt elektronischer
Drumsmaschine und Verstärker wieder hochgeladen. Er hechtet
souverän von Elektrofolk zu Bits&Bytes-Rock. Oder liegt
mittendrin. „Wir sind größer“ suggeriert
den Drang rauszumüssen. Aufbruchstimmung. Ein unruhiges aber
angenehmes Flair, das dem Album Bedeutung vermittelt.
Sufjan Stevens, Songwriter aus Detroit ist unbesiegbar. „The
Avalanche“ strahlt Wärme aus. Wunderbar opulent-orchestraler
Pop, dazu Indie-Rock getragen von süßen wie humorlosen
Gitarren. 21 Songs plus „Outtakes“ stehen zur Hörverfügung.
Ein nächster famoser Meilenstein in Stevens Lebensziel ist
genommen. Er möchte ja nur jedem US-Bundesstaat ein Album widmen.
Bitte nicht mehr perfekter werden. Hubert von Goisern zwischenbilanzierte
bereits im Juli mit „Derweil 1988–2006“ seine
Karriere. 18 Jahre von Goisern heißt auch: 1.000 Konzerte,
1,5 Millionen verkaufte Alben und 34 Songs auf zwei CDs, die das
Bisherige zusammenfassen. Authentizität pur. HvG ist so, wie
er ist. Hätte er 80 Millionen Platten verkauft, würde
er so sein, verkaufte er nur 100 Platten, wäre er der Gleiche.
Er passte nach Amerika wie nach Afrika. Er zeigt uns, wie man kulturell
lebt, ohne den gesetzlich förderungswürdigen Hammer auszupacken.
Sehr geradlinig.
Kaum eine Bar scheinen Ezio ausgelassen zu haben. Mit „Ten
Thousand Bars“ werden Ezio Lunedei und Mark „Booga“
Fowell zum Lieblingsbarkeeper. Ein Songwriter-Duo, das sich im Indie
Folk wohlfühlt, akustischen Rock liebt und großartige
Popmelodien erfindet. Und stets dezent instrumental bekleidet bleibt.
Eine Gefühlsplatte, die man nach vier Minuten liebt.
Aus der US-Untergrundszene sind Eagle Seagull. Vier Männer,
eine Frau. Aus Lincoln, Nebraska. Zarter, bedächtiger Indie-Rock
rollt da über uns. Getragen von guten Gitarren, verzaubert
durch eine taktvolle Bowie-Nähe und klebrige Orgeln. Kann aber
auch sehr folkig, beinahe countryesk tönen. Wilco schimmern
durch, in den emphatischen Momenten. Bezeichnend ist die unglaubliche
Ruhe der Platte; selbst wenn es laut wird. Unnachahmlich die arsenhaltige
Süße im Gesang. Und obwohl jeder Song anders ist, scheint
er ein Stück Eagle Seagull preiszugeben.
Schon das vorherige Album „Weather“ der Schweizer Band
Lunik hat überzeugt. Und war erfolgreich. Weil man sich traute,
Popmusik scharfkantig zu fertigen. Keine Schablonen wurden da eingetütet.
So auch diesmal. Drückende Beats passen pefekt zu allen tragenden
Melodien von Sängerin Jael, verschrobene Elektronikhilfen schaffen
Atmosphäre und „Preparing to leave“ wird definitiv
ein würdiges Nachfolgealbum für „Weather“.
Popmusik auf neuem Niveau. Lässiger als Pete Alderton ist wohl
niemand in diesem Jahr. Der Engländer liefert das Bluesalbum
des Jahres. Getränkt mit den Wurzeln des britischen Blues,
angereichert um amerikanische wie afrikanische Wurzeln, spielt sich
Alderton quasi in einen Rausch. Er singt brillant einfach, begleitet
sich und seinen Akustik- Blues gerne allein, kann aber auch mit
Band. Der Blues bekommt mit Pete Alderton eine neue Stimme, eine
andere Farbe und ein unbeschreiblich ungeniertes Album.
Ein klarer Jazzfall ist Sophie Milman, denn wenn schon Jazz, dann
so. Die 23-jährige Russin (geboren in Israel) könnte wohl
auch als Modell arbeiten. Oder Dolmetscherin, parliert sie doch
nebenbei noch in vier Sprachen: Hauptsächlich fällt sie
jedoch durch frischen Jazz und gelungene Kompositionen wie Interpretationen
auf. Locker fallen die Noten, flauschig setzt sich die Stimme, tief
bleibt der Eindruck. Gefeiert wird sie in den Staaten neben Helden
wie Diana Krall oder Michael Bublé. Ihr selbst betiteltes
Debutalbum verkauft sich seit März 2006 wie „Harry“.
Und das zu Recht. Die Stones mal lateinamerikanisch. Diese unbeschreiblich
wie unvermeidbare Idee findet sich auf „Bossa ´n´
Stones“. Die größten Hits mal eben ins Bossa-NovaGewand
geschoben. Das funktioniert prächtig und bedeutet, dass viele
Songs der Stones eben doch zeitlos sind. Was für ein Ende.
Sven Ferchow
Diskographie
V.A. – Folk Off (Sunday Best, August 2006)
Kolkhorst – Wir sind größer (tapete, August 2006)
Sufjan Stevens – The Avalanche (Rough Trade, August/2006)
Hubert von Goisern – Derweil 1988–2006 (SonyBMG, Juli/2006)
Ezio – Ten Thousands Bars (tapete, September 2006)
Eagle Seagull – Eagle Seagull (Lado, September 2006)
Lunik – Preparing to leave (Silversonic, September 2006)
Pete Alderton – Living on Love (Songways, September 2006)
Sophie Milman – Sophie Milman (Linus, September 2006)
V.A. – Bossa ´n´ Stones (SonyBMG, August 2006)