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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 41
55. Jahrgang | September
Rezensionen - DVD
Am Rande der Katastrophe
Mozart-Opern in älteren und neuen DVD-Produktionen
Das waren noch Zeiten, als wir unsere geliebten Opern unbefleckt
von den Errungenschaften modernen Regietheaters genießen
durften. Wir erfreuten uns an den hübschen Kostümen, den
bunten Kulissen und den von lästigen Handlungsanweisungen unbeeinträchtigten
Gesangsdarbietungen. Ein wenig von dieser Nostalgie dürfte
den ein oder anderen überkommen, der in eine der fünf
Mozartproduktionen des Drottningholmer Hoftheaters hineinschaut,
die nun auf DVD vorliegen.
Auch das possierlich eingekleidete und mit Perücken versehene
Orchester passt da ins Bild, doch ach, was müssen die verwöhnten
Ohren vernehmen: ruppiger Streicherklang ohne Vibrato, schnatternde
Bläser und das Ganze in einem ganz und gar nicht nostalgischen
Tempo! Am Pult steht Arnold Östman, und was er da mit seinem
Orchester in den 80er-Jahren wagte, war eine Pionierleistung in
Sachen historisierender Aufführungspraxis.
Heute wirkt das Ganze schon wieder leicht angestaubt, zumal dem
Klangbild eine gewisse Lieblosigkeit anhaftet, die mit Östmans
bisweilen absurd verhetzten Tempi korrespondiert. Das Così-Ensemble
kommt mit dem Atmen nicht recht hinterher, im Idomeneo und im Titus
werden die durchaus beachtlichen Versuche vokaler Rollengestaltung
immer wieder durch Östmans pauschales Dirigat konterkariert.
Besonders gut gesungen wird von den Tenören Stuart Kale (Idomeneo),
Stefan Dahlberg (Tamino, Titus) und Richard Croft (Belmonte), Ann
Christine Biel ist als Fiordiligi, Pamina und Ilia eine feste Größe.
Die Inszenierungen leben vom Reiz des wunderschönen, in der
Nähe Stockholms gelegenen Barocktheaters, eine Interpretation
findet kaum statt. Michael Hampe (Idomeneo), Harald Clemen (Entführung)
und Willy Decker (Così) unterliegen wie auch Östman
dem Irrtum, eine historische Einkleidung reiche hin, um Theatralik
zu erzeugen. Gut bekommt dieser, wenn man so will, naive Ansatz
der Zauberflöte. Göran Järvefelt bewegt die Bühnenmaschinerie
mit Fantasie und Liebe; ein gutes Ensemble, aus dem Mikael Samuelsons
Papageno und Lászlo Polgárs Sarastro besonders hervorstechen,
ist spielfreudig bei der Sache und auch aus dem Orchestergraben
ist Sorgfältigeres zu vernehmen.
Michael Hampe ist auch der Regisseur der Salzburger Così
von 1983. Schöne Bilder und Kostüme auch hier, Deutung,
Psychologisierung, Zuspitzung: Fehlanzeige. Riccardo Mutis Dirigat
ist weniger drahtig und gespannt als in der im Jahr zuvor mitgeschnittenen
EMI-Plattenaufnahme, Kathleen Battles Despina und die Fiordiligi
der Margaret Marshall führen das gute Ensemble an.
Wie intelligente Regisseure Mozarts Opernkosmos zur Entfaltung
bringen können, ohne den Werken Gewalt anzutun, zeigen zwei
weitere Produktionen. Martin Kusejs Salzburger Titus von 2003 verwandelt
die Felsenreitschule in ein Labyrinth aus Intrigen und Beziehungsabhängigkeiten,
in welchem der bisweilen klaustrophobische Kaiser seine Macht nur
noch durch Güte zu erhalten weiß. Die Personenführung
ist präzise und schonungslos, immer aber lässt sie der
Musik Raum zur Entfaltung. Unter Nikolaus Harnoncourts akribisch-enthusiastischer
Leitung verströmt ein nicht anders als ideal zu nennendes Ensemble
den ganzen vokalen Reichtum dieses Werkes. In Vesselina Kassarovas
„Parto, ma tu, ben mio“ und Dorothea Röschmanns
„Non più di fiori“ ist die ganze Ausdruckskraft
dieses Seria-Abgesangs gebündelt.
Nicht minder erlesen die Besetzung der letztjährigen Così
aus Aix-en-Provence. Vor allem die Dorabella Elina Garancas (im
Salzburger Titus singt sie einen wunderbaren Annio) und der Ferrando
Shawn Matheys wären hervorzuheben. Doch ist es hier die besessene
Regiearbeit Patrice Chéreaus, die sich zumindest bei der
ersten Begegnung noch stärker einprägt. Seine Detailgenauigkeit,
was Wege, Positionen und Blicke angeht (die Kamera fängt dies
präzise ein), führt zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass
man die Sängerinnen und Sänger zunächst einmal als
Schauspieler wahrnimmt (vor allem Ruggiero Raimondi). Der Partnertausch
führt bei Chéreau in Grenzbereiche der Emotionen; immer
steht das Ganze kurz davor, endgültig in eine Katastrophe umzuschlagen.
Nicht umsonst ist auf dieser kargen Bühne „Rauchen verboten“
und zahlreiche Feuerlöschersymbole an den Wänden machen
klar: ein winziger Funke könnte alles zur Explosion bringen.
Eine Sternstunde der Mozartinterpretation, vom Mahler Chamber Orchestra
unter Daniel Harding subtil ausgeleuchtet.
Juan Martin Koch
Idomeneo: Stuart Kale, Anita Soldh, David Kuebler,
Ann Christine Biel Die Entführung aus dem Serail: Aga Winska,
Richard Croft, Tamás Szüle Così fan tutte: Ann Christine Biel, Marie
Höglind, Lars Tibell, Magnus Linden Die Zauberflöte: Stefan Dahlberg, Ann Christine
Biel, Mikael Samuelson, Lászlo Polgár La Clemenza di Tito: Stefan Dahlberg, Anita Soldh,
Lani Poulsen, Marie Höglind
Chor und Orchester des Drottningholmer Hoftheaters, Arnold Östman
(ARTHAUS, alle Aufnahmen) Così fan tutte: Margaret Marshall, Ann
Murray, Kathleen Battle, Francisco Araiza; James Morris; Wiener
Philh., Riccardo Muti (TDK) La Clemenza di Tito: Michael Schade, Vesselina
Kassarova, Dorothea Röschmann, Elina Garanca, Barbara Bonney,
Wiener Philh., Nikolaus Harnoncourt (TDK) Così fan tutte: Erin Wall, Elina Garanca,
Shawn Mathey, Stéphane Degout, Barbara Bonney, Ruggiero
Raimondi; Mahler Chamber Orch., Daniel Harding (Virgin)