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nmz-archiv
nmz 2006/09 | Seite 39
55. Jahrgang | September
Noten
Aus diversen Blickwinkeln gewürdigt
Mozart-Editionen zum Jubiläumsjahr bei Bärenreiter
Auch Verlage können sich dem edlen Jubiläums-Wettstreit
nicht entziehen. Der Bärenreiter-Verlag tut dies mit der Herausgabe
dreier der wohl meist gespielten Klavierwerke Mozarts in Einzelausgaben
unter dem Motto „Neu – Mit Fingersätzen“
auf der Grundlage seiner bewährten Gesamtausgabe (1). Der Henle-Verlag
hat die „Klavierstücke“ neu ediert (2), die Wiener-Urtext-Edition
legt ebenfalls Neuausgaben der Klaviersonaten und der Klavierstücke
vor (3).
Wir setzen heute die Nutzung verlässlicher Urtext-Ausgaben
auf allen Ebenen des Musizierens und der Ausbildung als selbstverständlich
voraus – wohl wissend, dass auch der akribischste Notentext
nie eine einzig gültige Lösung für die hermeneutischen
Probleme, vor denen wir in der Musik wie in einer anderen Kunst
bei der Interpretation stehen, bieten kann. Interpretationshinweise
(wie sie der Alte-Musik-Experte Robert Levin für die Wiener-Urtext-Edition
beigesteuert hat) können da nur bedingt umfassendere notwendige
Kenntnisse in historischer Aufführungspraxis ersetzen. Feinheiten
der Artikulation sind in diesem Zusammenhang ein zentrales Thema
und es ist zu begrüßen, dass im Gegensatz zu früheren
Ausgaben die Neuedition bei Henle beispielsweise Staccato-Punkte
und -Keile unterscheidet. Ein nach aktueller Quellenlage zuverlässiger
Text sowie auf entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen basierende
Kommentare zu Entstehungsgeschichte, Einordnung oder Fragen der
Authentizität gehören in jedem Fall zum editorischen Standard
heutiger Urtextausgaben.
Für eine kritische Würdigung der in diesem Sinne vergleichbaren
drei „großen“ Urtext-Editionen bedarf es somit
einer „Blickwinkel“-Entscheidung.
Aus der Sicht von Spielern und Lehrenden sind dies Kriterien wie
Notenbild (gute Lesbarkeit, brauchbare Wendestellen), Fingersätze,
Ausführungshinweise (zum Beispiel zur Ornamentik), informative
Kommentare über die reine Quellenlage hinaus, Handhabung und
Ausstattung (zum Beispiel bei der Entscheidung für eine ein-
beziehungsweise zweibändige Ausgabe etwa der Mozart’schen
Klavierstücke, ein Auswahlband oder eine Einzelausgabe). Für
den Unterricht sind mit Fingersätzen versehene Notentexte von
unbestreitbar praktischem Nutzen. Dieses offensichtliche „Nutzer“-Anliegen
hat Bärenreiter zur Herausgabe von entsprechend bezeichneten
Einzelausgaben (siehe unten) bewogen.
So unterschiedlich Fingersatz-Prinzipien auch begründet sein
mögen, wird man die Bezeichnungen von Martin Kirschnereit aus
mehreren Gründen nur bedingt nachvollziehen können und
sicher seiner Anregung folgen (müssen), eigene Alternativen
zu entwickeln. (Das dürfte allerdings den Text streckenweise
optisch noch zusätzlich überladen.) Prinzipiell eher sparsam
gesetzt und erkennbar einem „sprechenden“ Mozartspiel
verpflichtete Fingersätze sind bei aller Unterschiedlichkeit
den Neuausgaben von Henle und Wiener Urtext zu attestieren.
Wer die d-Moll-Fantasie mit der Bärenreiter-Einzelausgabe
erarbeiten möchte, sieht sich bedauerlicherweise einem nicht
sehr lesefreundlichen Druckbild gegenüber, zudem wäre
bei einer Neuausgabe im Allegretto-Teil zweifellos auch eine bessere
Wendestelle zu realisieren gewesen. Das Vorwort zur Lied-Vorlage
der Variationen fällt eher philologisch lapidar aus. Ganz anders
in der Neuausgabe des Henle-Verlages (4): Darin wird nicht nur ausführlich
die Geschichte der Melodie bis ins 20. Jahrhundert nachgezeichnet,
sondern damit bekannt gemacht, dass in dem Lied „Ah, vous
dirai-je Maman“ ursprünglich von der Irritation des ersten
Verliebtseins eines jungen Mädchens die Rede war, dem ein junger
Mann einen Kuss raubte – ohne dass ihr Hündchen zur Hilfe
kam.
Alle drei Editionen der „Klavierstücke“ sind größtmöglicher
Vollständigkeit aller nach neuestem Kenntnisstand zugänglichen
und als authentisch belegten Werke und Fragmente verpflichtet.
Sie unterscheiden sich am ehesten in der Systematik der Zusammenstellung.
Gerade auch die oft nur wenige Takte umfassenden Fragmente (kompositorische
„Sprungbretter“ nennt sie der Mozart-Biograf Einstein)
bieten „Kennern“ wie „Liebhabern“ das Vergnügen,
Einblick in die kompositorische Entwicklung Mozarts in seiner gesamten
Lebensspanne zu bekommen. Eine echte Bereicherung des Repertoires
auf der „mittleren Ebene“ stellt das von Michael Töpel
bei Bärenreiter herausgegebene und nach erst in den 1980er-Jahren
wieder aufgefundenen Quellen ergänzte Konzert-Rondo A-Dur dar
(5). Von Mozart ursprünglich mit einer Orchesterbesetzung mit
Streichern, zwei Hörnern und zwei Oboen vorgesehen, handelt
es sich bei dieser Veröffentlichung um eine Solo-Fassung des
im 19. Jahrhundert wirkenden Komponisten und Pianisten Cipriani
Potter. Die pianistischen Anforderungen (Skalen, Arpeggien, auch
Kreuzen der Hände) sind in den Solo-Partien etwa mit denen
mittelschwerer Mozart-Sonaten vergleichbar. Die Tutti-Partien sind
vollgriffiger mit längeren Oktavenpassagen. Auf Fingersätze
hat der Herausgeber verzichtet. Da zu diesem Werk keine authentische
Kadenz überliefert ist, hat Michael Töpel eine solche
beigesteuert. Taucht man ein in die Welt Mozart’scher originaler
Eingänge und Kadenzen zu Klavierkonzerten, die bei Bärenreiter
vorliegen (6), hätte man sich einen Kadenzvorschlag mit ein
wenig mehr Spiellaune und modulatorischem Raffinement vorstellen
können.
Sibylle Cada
(1) Variationen „Ah, vous dirai-je Maman“
KV 265 (Hrg. K. von Fischer), BA 5765
Fantasie in d KV 397 (Hrg. W. Plath), BA 6754
Sonate C „facile” KV 545 (Hrg. W. Plath/ W. Rehm),
BA 5763
(Alle drei Einzelausgaben mit Fingersätzen von M. Kirschnereit)
Einzelstücke für Klavier, revidierte Neuausgabe 2001
(Hrg. W. Plath), BA 5745
(2) Klavierstücke – revidierte Ausgabe
2006 (Hrg. U. Scheideler, Fingersätze W. Lampe/A. Groethuysen),
Henle 22 (auch als Studien-Edition und als Auswahlband)
(3) Klavierstücke in 2 Bänden (Hrg.
U. Leisinger, Ergänzungen und Interpretationshinweise
R. Levin, Fingersätze U. Leisinger/H. Kann/D. Kraus) UT 50229
+ 50230
(4) 12 Variationen über „Ah, vous dirai-je
Maman“ KV 265 (Hrg. E. Zimmermann, Vorwort U. Konrad, Fingersätze
W. Lampe), Neuausgabe 2005, Henle 165
(5) Konzert-Rondo in A KV 386 (Hrg. Michael Töpel),
BA 5768
(6) Kadenzen und Eingänge zu den Klavierkonzerten,
Revidierte Neuausgabe (Hrg. F. Ferguson/W. Rehm), BA 5337