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Ausgabe 2006/09
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nmz 2006/09 | Seite 34
55. Jahrgang | September
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Fachgruppe Musik

Wir dürfen keine Einschränkungen hinnehmen

Gerhart Baum im Gespräch zur Kulturpolitik in NRW

Vor einem Jahr wurde der einstige Innenminister in der sozialliberalen Koalition, Gerhart Baum (FDP), zum Sprecher des Kulturrats NRW gewählt. Baum, Jahrgang 1933, der als Streiter für die Kultur bekannt ist, folgte in dem Amt Hans-Georg Bögner.

neue musikzeitung: Herr Baum, Sie sind nicht nur in NRW, sondern bundesweit als Anwalt der Kultur bekannt – etwa als Verteidiger der Donaueschinger Musiktage, zu deren Fortbestand Sie wesentlich beigetragen haben, und generell als Mahner des Kulturauftrags im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wenn Sie in die Kommunen und die Länder schauen, sehen Sie derzeit irgendwo ein beachtenswertes, ganzheitliches kulturpolitisches Konzept?
Gerhart Baum: Ich meine, es gibt eine Vielzahl solcher Konzepte, rege Aktivitäten in allen Sparten der Kultur, und wir müssen in Deutschland den Vergleich mit anderen europäischen Ländern überhaupt nicht scheuen. Ich denke nur an die neuen Aktivitäten der Bundeskulturstiftung oder an die Aktivitäten der Kulturstiftung in NRW. Bei allen Schwierigkeiten und allem Druck, der aus den öffentlichen Haushalten kommt und dem man kämpferisch widerstehen muss, lässt sich sagen: Das Land kann sich noch sehen lassen, aber wir müssen diese Qualität auch behaupten.

nmz: Seit Hans Rettichs baden-württembergischer Kulturkonzeption vor bald 20 Jahren gibt es kein schlüssiges gesamtheitliches Konzept mehr, wo sehen Sie Ähnliches?
Baum: Ich weiß nicht, ob so etwas gebraucht wird. Es gibt hingegen sehr interessante Aktivitäten im Bereich der kulturellen Bildung, da sehe ich das Land aufgewacht. Es ist begriffen worden, dass wir Kultur sehr viel stärker in die Schulen bringen müssen; dass wir Hemmschwellen zu unseren Konzerthäusern abbauen müssen, zur zeitgenössischen Musik generell. Es gibt also etliche Konzepte ...

nmz: ... mit dem Schwerpunkt des Bewahrens.
Baum: Das sehe ich nicht so. Im Bereich der zeitgenössischen Musik, in dem ich mich viel bewege, ist das nicht der Fall. Gott sei Dank haben wir die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die sich jetzt zwar teilweise von dieser Pflicht entfernen, im Ganzen jedoch den Entwicklungsauftrag ernst nehmen wie die anderen Träger der Kulturpolitik auch.

nmz: Würden Sie angesichts der gewaltigen finanziellen Aufgaben, die nach 1989 aus der Vereinigung erwuchsen, von einer kulturpolitischen Zäsur sprechen?
Baum: Die Kulturpolitik hat zunehmend einen schweren Stand, und die Zahl der Verantwortlichen hat zugenommen, die sie als Schönwetterveranstaltung ansehen – eine Veranstaltung, die in Zeiten knapper Kassen zu vernachlässigen ist und eben keinen eigenständigen Stellenwert besitzt. Selbst wenn das nicht ausdrücklich in der Verfassung niedergelegt wurde, so gibt es doch einen Förderauftrag des Staates zur Entwicklung der Kultur. Die Kultur ist unter Druck. Die Gefahr ist heute groß, dass die Kultur in Konkurrenz zu anderen Staatsaufgaben gesehen wird. Zugenommen hat auch die Gefahr, dass Kultur an wirtschaftlichen Kriterien gemessen wird. Zuschauerzahlen oder Quoten sind Kriterien, denen sich die Kultur zu entziehen hat. Dennoch macht sich ein ökonomisches Effizienzdenken breit: Was sich nicht rechnet, gilt nicht. So lässt sich beobachten, dass Kultur in die Defensive geraten ist. Diejenigen, für die Kultur wichtig ist, müssen mehr kämpfen als früher. Wir dürfen keine Einschränkungen hinnehmen, jedenfalls keine, die an die Substanz gehen.

nmz: Im vergangenen Jahrzehnt wurde vielerorts der sogenannte Strukturwandel beschworen, im Osten sowieso, aber auch in Ländern, die lange von Kohle und Stahl lebten wie NRW oder das Saarland. Die Bezeichnung, Kultur sei ein Standortfaktor, wurde propagiert, ebenso das Ziel, wenn der Strukturwandel gelänge, könnten wir uns auch die Kultur leisten. Ging diese Argumentation auf? Gerade auch in NRW?
Baum: Die Kultur ist nicht daran zu messen, ob sie der Mehrheit gefällt. Und weil sie eine Angelegenheit von Minderheiten ist, die für die Entwicklung der Gesellschaft unverzichtbar ist, war und ist sie gefährdet. Sie auf einen Standortfaktor zu reduzieren, ist aberwitzig. Sie kann Standortfaktor mit positiven Wirkungen auf den Wirtschaftsstandort sein, aber das ist nicht ihre Rechtfertigung. Oft überschätzt wurde in diesem Zusammenhang die Rolle der Sponsoren, so wichtig sie auch sein können, denn die Mittel, die so hereinkommen, betrugen nie mehr als fünf Prozent. Ich meine, dass wir das Bewusstsein dafür schärfen müssen, wonach die Kultur um ihrer selbst willen wichtig ist. Was Künstlerinnen und Künstler in diesem Land schaffen, ist nicht vergleichbar mit anderer Arbeit.

nmz: Nun hat Wolfgang Clement in seiner Funktion als Ministerpräsident immer postuliert, NRW müsse im Rahmen des Strukturwandels forciert zu einem Medienstandort ausgebaut werden.
Baum: Das war ihm unbenommen. Wenn er die Produktion von Filmen fördern wollte, dann hatte das teilweise einen Bezug zur Kultur, teilweise einen zur Unterhaltung. NRW als Medienstandort ist eine Arbeitsbeschaffungs- und Wirtschaftsförderungsmaßnahme. Das sollte nicht zu weit getrieben werden. So habe ich gerade gefordert, NRW müsse einen ordentlichen Minister für Kultur und Medien bekommen. Was sich in Berlin bewährt hat in Form des Staatsministeriums, das müsste auch in NRW gehen. Die Kultur steht hier allein. Unter der Regierung von SPD und Grünen ist zwar das Ruhrgebiet kulturell aufgewertet worden, aber vieles andere wurde vernachlässigt. Unter der jetzigen Landesregierung – und das ist im Kulturrat, dessen Sprecher ich bin, unbestritten – hat es in der Kulturpolitik einen Neuanfang gegeben.

nmz: Worin besteht der Neuanfang?
Baum: Die Kultur besitzt im Regierungsprogramm eine herausgehobene Stellung. Sie wird als Querschnittsaufgabe verstanden und es wurden neue Schwerpunkte gesetzt. Eine Geste ist, dass der Kulturförderetat in den kommenden fünf Jahren verdoppelt wird, während in fast allen anderen Etats gespart wird. Das ist nicht viel. Doch Dank dieses Schwerpunkts können Versäumnisse der alten Landesregierung teilweise repariert werden. Zum Beispiel ist die regionale Kulturförderung vernachlässigt und abgewertet worden. Kultur in den Schulen wird aufgewertet, die freie Szene wird unterstützt, endlich werden auch wieder Bibliotheken gefördert, die Migranten-Kultur bekommt neues Geld. Es ist von einer neuen Phase der Kulturpolitik zu sprechen, wozu auch der Abbau von Bürokratie bei den Genehmigungsverfahren zählt. Das Programm setzt sich zusammen aus vielen kleinen Einzelpunkten. In Zeiten finanzieller Enge sollen neue Impulse gesetzt werden. NRW muss sich als – und jetzt verwende auch ich den Begriff – Kulturstandort behaupten, denn wir leiden unter Aufmerksamkeitsverlusten, unter Abwanderung. Wir zählen zu den reichsten Kulturlandschaften in Europa und müssen das selbstbewusst vertreten.

nmz: Das erinnert an die alten Konzepte von Hermann Glaser und Hilmar Hoffmann, der ja hier im Ruhrgebiet seine ersten Zeichen setzte.
Baum: Ja, aber das war damals ein ganz anderer Aufbruch.

nmz: Aber inzwischen haben sich die gesellschaftlichen Bedingungen so verschärft, dass zwei Generationen von sozialer und kultureller Armut betroffen sind, denken wir an die Ausgangsposition des Musik-Projekts vom Salzburger Mozarteum und der Philharmonie Essen in Essen-Katernberg, für das Sie sich als Schirmherr zur Verfügung stellten. Bildungspolitiker haben im Grunde zwei Generationen in Problembezirken preisgegeben, wogegen sich die Lehrer und Schulbehörden inzwischen erfolgreich stemmen.
Baum: Was Kultur im Bildungsbereich bewirken kann, das hat uns das Programm „Rhythm is it“ mit Simon Rattle vor Augen geführt, das allerdings sehr viel Geld zur Verfügung hatte, auch das Programm „Kinder zum Olymp“ gab wichtige Anstöße: Welche Kräfte und soziale Kompetenz Kultur entwickelt und freisetzt ist dadurch deutlich geworden. Das gelingt anderen Bildungsbereichen nicht. Kulturelle Bildung kommt in den Pisa-Studien gar nicht vor. Was jungen Menschen zum Beispiel Musik geben kann, ist nicht messbar. So wie vieles, was nicht messbar ist, in unserer Gesellschaft unter dem Tisch landet.

nmz: Die CDU ist traditionell eine Förderin der Hochkultur ...
Baum: Nicht in meinen Augen, das ist längst vorbei, obwohl ich mein Leben lang große Probleme mit Teilen des CDU-Programms hatte. Doch wo die CDU die Kulturpolitik bestimmt, ist sie nicht schlecht, so meine Erfahrung. Und wenn wir schon über Parteien sprechen, dann haben die Grünen Berührungsängste mit der Hochkultur, während bei der SPD oft die Qualität unter die Räder kam, weil nach dem Gießkannen-Prinzip gefördert wurde. Die FDP setzt oft zu einseitig auf private Initiative.
So hat jede Partei ihre Schwierigkeiten mit der Kultur. Nur habe ich beobachtet, dass die CDU mit der FDP zusammen hier im größten Bundesland eine Trendwende in die Wege geleitet hat, und bisher folgen dem auch Taten.

nmz: Wie sieht denn der neue Förderproporz aus? Ist davon auszugehen, dass vom verdoppelten Etat die Hälfte für die erweiterten Aufgabenfelder zur Verfügung steht?
Baum: Ja. Zudem findet eine sichtbare Kooperation zwischen dem Land und den Gemeinden statt. Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff sollte Kulturminis-ter werden, um die herausragende Position der Kultur zu dokumentieren. Als Staatssekretär hat er im Parlament kein Rederecht, die Kultur hat dort kein Gesicht, und im Konzert der Bundesländer sitzt ein Staatssekretär Ministern gegenüber, auch in Brüssel.

nmz: Dass Kulturminister und Staatssekretäre künftig nach Brüssel müssen, verdankt sich ihren Bemühungen um die Föderalismusreform. Wie sehen Sie diese Reform als Jurist und Politiker?
Baum: Ich halte die Föderalismusreform für völlig misslungen – für den Umweltschutz, die Bildungspolitik, in der Besoldungspolitik. Wichtige Errungenschaften, die ich vor Jahrzehnten in politischer Verantwortung mit erkämpft habe, sind aufgegeben worden. In ein paar Jahren werden die Menschen fragen: Wer hat denn das gemacht? In der Kulturpolitik wünschten sich die Länder, ihre Position zu verstärken auf Kosten des Bundes. Ich meine, das kann der Kultur nicht guttun, denn Bund und Länder müssen partnerschaftlich zusammenwirken, und die Außenvertretung für die Kultur muss beim Bund liegen. Man wollte um jeden Preis eine Reform, wobei die Inhalte keine große Rolle mehr spielten. Man wollte den Ländern etwas geben, und da waren Kultur und Bildung Verschiebemasse.

nmz: Was befürchten Sie für die Kultur?
Baum: Sie wird rundherum geschwächt.

nmz: Umso wichtiger ist vermutlich ein Kulturrat wie der in NRW, der in diesem Jahr sein zehnjähriges Bestehen feiert und dessen Sprecher Sie seit einem Jahr sind. Warum hat dieses Gremium als Zusammenschluss von rund 80 Verbänden bislang bundesweit auf Länderebene keine Nachahmer gefunden?
Baum: Das wird jetzt gerade in Niedersachsen versucht. Es ist doch ein hilfreiches Instrument der Meinungsbildung: Wir kritisieren, wir loben, und da keine Partei als kulturfeindlich gelten möchte, sind die Politiker bemüht, ein gutes Dialogverhältnis zu pflegen und Kritik zu vermeiden.

nmz: Triezen Sie die Politiker auch?
Baum: Natürlich. Es ist meine Lebenserfahrung, dass man ohne anzuecken nicht weiterkommt. Das sollte man übrigens jungen Leuten in der Politik deutlich machen: Man kann Karriere auch dadurch machen, dass man widerspricht.

Das Gespräch führte Burkhard Baltzer.

 

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