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nmz-archiv
nmz 2007/03 | Seite 45
56. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Zwischen Eigensinn und Beliebigkeit
Experimentelles abseits großer Strömungen: die fünfte „Pyramidale“ in
Berlin-Hellersdorf
Ferner als Montevideo lägen dem Berliner die eigenen Stadtteile
Hellersdorf und Marzahn, meint Bundespräsident Köhler
in einer Laudatio auf den Schriftsteller Wolfgang Büscher,
und auch für den Schweizer Komponisten Max E. Keller geht
es schneller von Zürich nach Berlin als anschließend
mit der U 5 in die berüchtigte No-Go-Area am östlichen
Stadtrand. Hier, in der mit etwa 200.000 Einwohnern größten
Plattenbausiedlung Europas, versucht das Berliner Komponistenteam
Ralf Hoyer/Susanne Stelzenbach ein wenig Kultur anzusiedeln. Schon
zum fünften Mal konnte im bezirkseigenen Ausstellungszentrum „Pyramide“ das
Minifestival „Pyramidale“ veranstaltet werden. Ausgangspunkt
für ein dem Interdisziplinären verpflichtetes Konzept
war das eigene Ensemble „pianoplus“, das den Klavierklang
zunächst durch Elektronik erweiterte und im Zusammenspiel
mit anderen Künsten ins Räumlich-Szenische überging.
Mit dem Projekt „agieren und reagieren“ bei einer „langen
Nacht“ der Museen 2002 war die Festivalidee geboren. Seitdem
repräsentiert der „vielseitige“ Pyramidenbau die
unterschiedlichsten Facetten neuer Kunst und Musik in immer neuen
Themen und Kombinationen.
Nach „Zeit“, „Mathematik der Gefühle“ oder „Kosmos“ ging
es diesmal um das „Individuum“ – ein Sujet, das
gerade in der Plattenbauumgebung bestens aufgehoben sei, wie Moderator
Keller fand – zumal die Programmfolge immer noch einen Gutteil
Ex-DDR-Szene versammelte, die damit ihre ganz eigenen Erfahrungen
hatte. Doch sollte es um eine zentrale Kategorie der Kunst schlechthin
gehen, die das Unverwechselbare, „Eigensinnige“ bis
hin zur Originalitätssucht anspricht und zugleich in Widerspruch
gerät zur Sehnsucht des Künstlers, verstanden zu werden,
dazuzugehören. „Monodrama“ für einen Percussionisten
von Kurt Dietmar Richter und „Ritornelli“ für
Flöte solo von István Szigeti bemühten denn auch
gleich den einsamen, ganz auf sich gestellten Interpreten, nicht
ohne der Beliebigkeit eines „anything goes“ – Kehrseite
der unbedingten Abgrenzung – zu entgehen. Reichhaltigere
Entfaltungsmöglichkeiten fand der charismatische Schlagzeuger
Gerd Schenker in den Uraufführungen „Randspiel“ von
Helmut Zapf und „schlag-werk“ von Thomas Gerwin, die
mit Live-Elektronik für farbige Klangschattierungen sorgten.
Während Friedrich Goldmann mit „3 strofen“ für
Klarinette und Violine in etwas blasser Gesanglichkeit befangen
blieb, versuchte sich der 1979 geborene Arno Lücker in kompromissloser
Sperrigkeit: „ich (…) nicht“ für Flöte,
Klarinette und Streichtrio will Verweigerung bis hin zum Paradox
behaupten, doch die provokant gemeinten Rülpser der Musiker
zu den ausgesucht schrillen und schneidenden Klängen wirkten
dann doch eher unfreiwillig komisch. Das ebenfalls uraufgeführte
Werk „Musik und schöns Blümelein“ für
(fast) gleiche Besetzung des Trojahn-Schülers Arne Sanders
dagegen bezieht aus einem Motiv des Schweizer Komponisten Christoph
Delz (1950–1992) erstaunliche Tragfähigkeit und Geschlossenheit.
Von gediegener Originalität auch Susanne Stelzenbachs „Jagen.
Stille“ mit seinen Kontrasten hektischer Rhythmen und ruhiger
Klangflächen, voller Ausdruckskraft das Streichtrio (2005)
von Georg Katzer, dessen fragile Energie in starrem Bogenknarren
implodiert. Kontrastreich auch, was vor der anregenden optischen
Folie von Fotografien Andreas Rosts und Joachim Seinfelds zur verzerrten
Wahrnehmung von Identität in theatralische Bereiche überging:
Während Hoyer/Stelzenbachs „Chimäre“ mit
gesungenen und gesprochenen Texten von Federico Garcia Lorca („ensemble
leitundlause“) zu Bombengeräuschen des spanischen Bürgerkriegs
noch einen komplexen und spannungsvollen Beitrag zum Thema Fiktion
und Wirklichkeit, inneres und äußeres Erleben leistete,
ging ein ganz ähnliches Unterfangen bei Max E. Keller gründlich
schief. „Food“ ist eine Tischinstallation, in der ein
Schlagzeuger Teller, Pfannen und Gläser zum Klingen bringt,
zelebriert mit immer neu aufgedeckten „Cloches“ (Metalldeckeln)
quasi ein 6-Gänge-Menü, während Tango-Rhythmen an
den Hunger in der Dritten Welt erinnern sollen. Doch die an sich
schöne Idee versickerte in den Belanglosigkeiten allzu unprofilierter
Klänge und Aktionen.
Unter den 17 Kompositionen, unter denen auch der vergnügliche „Misserfolg“ von
Tom Johnson für Kontrabass solo in der virtuosen Performance
durch Matthias Bauer erklang, befanden sich immerhin zehn Uraufführungen
unterschiedlichster Machart und Qualität. Der Komponistenkreis
ist überschaubar und speist sich aus einer eingeschworenen
Berliner Szene, doch scheint er sich allmählich zu öffnen.
Was sich auf der „Pyramidale“ mit geringfügiger öffentlicher
Unterstützung ereignet, ist Experimentelles abseits großer
Strömungen und enthält gerade deshalb manchmal erstaunliche
Fundstücke – zu denen auch der Flop gehört. Die Öffnung
zum „ganz normalen Publikum“ ist gerade in der Kulturwüste
mit unangestrengter, sich nicht anbiedernder Lockerheit möglich.
Dazu gehörte auch, das Festival getreu dem griechischen „pyros“ = „Feuer“ beim
Wortsinn zu nehmen: mit einem kleinen Feuerwerk im frühlingswarmen
Innenhof, zu dem sich das „Boreas-Ensemble“ in verrückten,
ironischen und einschmeichelnden Blechbläserklängen der „eingefrorenen
Zitate“ ergehen durfte.