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nmz-archiv
nmz 2007/03 | Seite 43
56. Jahrgang | März
Oper & Konzert
Schmutzige Klänge gegen Sterilität und Entfremdung
Das Ultraschall-Festival Berlin sucht nach der „gesellschaftlichen
Relevanz Neuer Musik“
„
The Return of the Real“ – die Rückkehr der Wirklichkeit – hieß eine
Komposition des schwedisch-israelischen Komponisten Dror Feiler,
die im Januar 2002 bei Ultraschall uraufgeführt wurde. In
einer 50-minütigen, ohrenbetäubenden Geräuschorgie
ließ sie Lärm, Schmutz und Gewalt des „wirklichen
Lebens“ über den Hörer hereinbrechen – drei
Monate nach dem 11. September. Das Thema der „gesellschaftlichen
Relevanz“ Neuer Musik tauchte auf diesem Festival regelmäßig
auf, meist innerhalb von Podiumsdiskussionen und Komponistengesprächen
oder auch als Experimentieren mit neuen Vermittlungsformen. Doch
in diesem Jahr bildete es einen ganzen Programmstrang, der erahnen
ließ, mit welch unterschiedlichen Bedeutungen der für
obsolet erklärte Begriff gefüllt werden kann.
„Küsse
und Fußtritte“ – Stefan Blum dekonstruiert
das Schlagzeug in Jörg Widmanns „Skelett“.
Foto: Rainer Pöllmann
Zunächst schien es wieder einmal darum zu gehen, einfach den
Elfenbeinturm Neuer Musik einzureißen und auf ihre Verständlichkeit
für ein breiteres Publikum zu pochen. Neue Räume für
neue Vermittlungsformen waren angesagt – Ultraschall fand
sie im brandneuen Kulturhaus „Radialsystem“,
und lange Schlangen an den Kassen gab es auch. Kein Zweifel, das
Festival expandiert weiterhin. Eine
Tagung zum Thema „Zukunft Konzert“, veranstaltet von
den Musikwissenschaftlern der Technischen Universität, sondierte
weitere Möglichkeiten einer Aktivierung des Hörers. Was
in der E-Musik „Top“ oder „Flop“ ist, wurde
auch unter handfesten veranstalterischen Interessen beleuchtet:
Wie muss die „Klassik“ aussehen, die Zehntausende von
Besuchern mobilisiert? Aber ist „gesellschaftlich relevant“,
wenn möglichst viel Musik von möglichst vielen Leuten
gehört wird, und was hat das mit der „Relevanz“,
sprich gesellschaftlichen Aussagekraft, der Kompositionen selbst
zu tun?
Im Eröffnungskonzert, der vom Deutschen Symphonie-Orchester
Berlin bestrittenen 200. „Musik der Gegenwart“, wurde
schnell klar, zu welcher Beliebigkeit ein wie immer gearteter außermusikalischer
Bezug führen kann. Bei Sebastian Claren geht es „After
Blinky Palermo“ um eine bestimmte Anordnung von 40 monochromen
Tafeln des amerikanischen Malers, von der sich die Kompositionsstruktur
inspirieren ließ. Doch Reduktion des Klangmaterials ist umso
problematischer, wenn es so reizlos und schematisch ablaufend erfunden
ist wie hier. Verstörend naiv dagegen Hans Ottes „Memorial“,
das 1999 als „Prayer for Peace“ für ein Friedensfest
mit 3000 buddhistischen Mönchen entstand. War dieses in süßlichen
Dreiklangsparallelen schwelgende Werk tatsächlich als Pendant
zu Klaus Hubers hochdifferenzierten „Lamentationes de Fine
Vicesimi Saeculi“ im Abschlusskonzert gedacht, nur weil dies
gleichfalls von (völlig anderen) weltanschaulich-religiösen
Inhalten bewegt ist? Und braucht man in Olga Neuwirths „Zefiro
aleggia … nell’ infinito“ wirklich den Bezug
zum „Raum der Erinnerung“ in Daniel Libeskinds „Jüdischem
Museum“, um an den verknäuelten, blubbernden, röchelnden,
klangfarblich sensibel mit dem Orchester abgestimmten Passagen
des exzellenten Fagottisten Pascal Galois sein herbes Vergnügen
zu haben? Warum wirkt ausgerechnet „Figures – Doubles – Prismes“ von
Boulez (1963/68), das nichts anderes sein will als der Titel angibt,
bei aller seriellen Strenge so emotionsgeladen kraftvoll? Was für
eine Realität brauchen wir, damit solche Musik entstehen kann?
Publikumsfreundliches stand zu Anfang im Vordergrund. Als Angebot
speziell für Kinder und Jugendliche gab es ein „Rhythm
Lab“ mit der Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky, die einen
kleinen Walzer von John Cage erarbeiten ließ. An diesem „Tag
des Schlagzeugs“ machten „Les Percussions de Strasbourg“ mit
Wolfgang Rihms „Eine Stimme“ und Stefano Gervasonis „Die
Aussicht“ Furore, und auch Jörg Widmanns „Skelett“ für
Schlagzeug als klingender Abbau desselben lebte von der Zurschaustellung
virtuoser Fähigkeiten. Diese neunte Ultraschall-Ausgabe schien
ein Festival großer Interpreten zu werden, durchaus wünschenswert
angesichts einer erst langsam entstehenden Aufführungstradition
Neuer Musik. Das Scharoun-Ensembles bestätigte dies mit Werken
von Marc-André Dalbavie, Bent Sorensen, Kaija Saariaho und
Juliane Klein – ausgefeilte und klanglich hinreißende
Darbietungen für erstaunlich viel konventionellen Leerlauf.
Ungleich aufregender als Kleins verrätseltes „Gehen“ war
ihr Streichquartett „ungetrennt“ mit dem Pellegrini-Quartetts
zu erleben, das mit dem ätherischen 3. Quartett von Erhard
Großkopf, der radikalen Urfassung des 2. Quartetts von Michael
von Biel – 1963 vielem anderen an Modernität überlegen – und
den stillen, erstaunlich kurzen „Structures“ von Morton
Feldman aussagekräftige Handschriften konfrontierte. Eine
neue Sicht auf Wyschnegradsky, Eisler und Webern verschafften die
Pellegrinis durch trickreiche Anordnungen, in die das Streichquartett
(1931) der jungen Ruth Crawford Seeger wie ein Sturm hereinbrach – immer
noch ist die amerikanische Moderne bei uns viel zu wenig bekannt.
Dem Arditti-Quartett war es vorbehalten, die Superkomplexität
eines Brian Ferneyhough so zu durchleuchten, dass man dem Streichquartett
Nr. 5 bis in den letzten Winkel seiner Verästelungen bereitwillig
folgte. Aber auch Isabel Mundrys „Linien, Zeichnungen“ nahmen
durch wohltuende Klarheit und Prägnanz ihrer Gestalten für
sich ein, was die Orchesterfassung im Abschlusskonzert noch bekräftigte.
Etwa zur Halbzeit dann der Umschwung: Clemens Gadenstätter,
dem ein Portraitkonzert gewidmet war, setzt mit „Comic sense“ geradezu
zum Befreiungsschlag durch alles virtuos redselige Rankenwerk an:
Das Klangforum Wien ist in unablässiger Bewegung, Florian
Müller am Klavier spielt Tonleitern rauf und runter, äfft
sich selbst am Keyboard nach; alles klingelt, knallt und pfeift
wie ein wildgewordenes Zirkusorchester. Jeder Ton bedeutet sich
selbst und doch zugleich etwas anderes: Persiflagen und Quasizitate
nehmen liebgewordene Konventionen aufs Korn und fügen sich
doch zu einer eigenen, echten Struktur, die mitten im geschäftigen
Wahnsinn Inseln eines fernen, utopischen Klanges durchschimmern
lässt. „Songbook“ für Saxophon, Schlagzeug
und Klavier evoziert stärker diese reich abgestuften Klangwelten,
fügt dem mit durch die Musiker zu betätigende Elektro-Verstärkung
noch ein spielerisches, improvisatorisches Moment hinzu, das auf
die von Gadenstätter keineswegs verschmähte Pop-Musik
hinweist.
Musik und Gewalt
Fausto Romitelli integriert Populäres – den Avantgarde-Rock
der 60er- und 70er-Jahre – zum Zweck einer „demokratischen
Durchlässigkeit“ der Stile und Kulturen, nähert
sich seinen Qualitäten des Subversiven und der existenziellen
Grenzüberschreitung an. „Trance von Licht und Klang“ soll
die Video-Oper „An Index of Metal“ vorstellen. Die
suggestiv glühenden, teils verzerrten und verbogenen Klänge
des Grisey-Schülers, denen die warme Sopranstimme Donatienne
Michel-Dansacs die menschlich berührenden Klagelaute hinzufügt,
verschmelzen mit den Videoprojektionen Paolo Pachinis zu einer
faszinierenden Gesamtwahrnehmung. Musik und Bild sind einander
ebenbürtig als halluzigene Facetten des Stoffes „Metall“,
die sich zum Schluss zur gigantischen Müllhalde in den buntschillernden
Farben des Verfalls, zum ekstatisch kollabierenden Gitarren-Solo à la
Jimi Hendrix akkumulieren. Romitellis „Oper“, grandios
wiedergegeben vom Ictus Ensemble Brüssel, eröffnete den
Programmschwerpunkt „Musik und Film“, der unter dem
Motto „Gehörgang ins Auge“ zeitgenössische „Vertonungen“ experimenteller
Stummfilme der 1920er-Jahre vorstellte – aufschlussreich
etwa, wie bei Walter Ruttmanns „Lichtspiel Opus I“ die
Musik Oliver Fricks den Bildrhythmus strukturiert und damit die übliche
Vorherrschaft des Bildes zu brechen vermag – und durch das „Gebirgskriegsprojekt“ von
Jorge E. Lopez eindrucksvoll beschlossen wurde. Der „Wachtraum
für Videogestaltung mit konkretem und instrumentalem Raumklang“ montiert
historisches Fotomaterial von Soldaten im ersten Weltkrieg am Kriegsschauplatz
Dolomiten mit Ansichten der unbelebten Bergwelt; das Publikum wird
von aus acht Lautsprechergruppen dringenden Klängen eingehüllt,
monumental, gewaltig, farbenprächtig, auch überredend.
Romitelli war auch derjenige Komponist, der die „Rückkehr
der Wirklichkeit“ mit reicher Klangphantasie und „sozialer“ Sensibilität
am künstlerisch überzeugendsten betrieb. Mit sieben Kompositionen
kam der 2004 mit 41 Jahren verstorbene Italiener umfassend zu Wort.
Von unmittelbarer, fast körperlich spürbarer Sinnlichkeit
sind sie alle, in ihrer quasi skulpturalen Beschaffenheit, ihrer
subtilen Materialbehandlung dennoch emotional sehr eindringlich. „Heute
muss Musik gewalttätig und rätselhaft sein, da sie nur
die Gewalt der Entfremdung und der Normierungsprozesse in unserer
Umwelt ausdrücken kann“, kommentiert Romitelli. Eine
Auffassung, die bereits auf Galina Ustwolskaja zutrifft, die vor
kurzem verstorbene Doyenne der noch von der Sowjetherrschaft bestimmten
russischen Musik, deren niederschmetternd wuchtige Sonaten Markus
Hinterhäuser während des „Schlagzeug“-Abends
zelebriert hatte. In diesem Konzert des von Jonathan Stockhammer
geleiteten Rundfunk-Sinfonieorchesters kamen verschiedene Haltungen
der Umsetzung des Politischen zur Sprache. Welten liegen zwischen
Romitelli und Nicolaus A. Huber, dessen gut 25 Jahre altes „Morgenlied“ sich
zwar auf einen Song von Dieter Süverkrüp bezieht, in
seiner differenzierten Struktur – dem Komponisten zufolge
hängt es vom Rhythmus und von der Klangfarbe ab, ob da jemand
in welcher Absicht marschiert – jedoch trickreich verklausuliert.
Was bleibt, sind heterogene, schwer aufeinander beziehbare Musiken
und der Witz haarfeiner rhythmischer Abläufe.
Musik und Schrecken
Samir Odeh-Tamimi dagegen stellt den Schrecken nackt und bloß auf
die Bühne: In „Shira Shir“ vertont der palästinensische
Komponist, zugleich israelischer Staatsbürger, Texte des jüdischen
Dichters Jizchak Katzenelson, der in Auschwitz ermordet wurde.
Das heißt, von „Vertonung“ kann kaum die Rede
sein, wenn der Bariton Romain Bischoff seinen einen Zentralton
umwindenden Part buchstäblich herausschreit, würgt und
gurgelt, als würde er stranguliert. Das Entsetzen der realen
Ereignisse fasst den Hörer an, angenehm, „schön“, „ästhetisch“ ist
das alles nicht. Trotz heftigen Beifalls musste der Komponist sich
auch den Vorwurf des Undifferenzierten und Plakativen gefallen
lassen, ein probates Mittel, um Betroffenheit abzuwehren. Doch
der mit der Sufi-Tradition seiner Heimat befasste Palästinenser
denkt im wahrsten Sinne nicht „harmonisch“.
Und wer sich Ustwolskajas von Clustern aufgefüllte Einsträngigkeit
vergegenwärtigt, den Sufi-Gesang in Klaus Hubers „Lamentationes“ hört,
der ahnt, dass wir diese nicht „abendländisch“ dimensionierteMusik
vielleicht noch gar nicht begreifen können.