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nmz-archiv
nmz 2007/03 | Seite 17
56. Jahrgang | März
Gegengift
Kitsch-Kulturen
Wer zum wiederholten Mal bei sich steigerndem Genuss das d-moll-Konzert
von Sibelius mit der jungen Geigerin Julia Fischer hört
und sich en passant daran erinnert, dass dieser Grenzgänger
zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert für Adorno einst
die Verkörperung des Bösen in der Musik war, der tönende
Kitsch-Mensch, der muss davon ausgehen, dass die Musik-Philosophie
mitten im europäischen Bürgerkrieg und angesichts der
Vernichtungslager auf beiden Seiten der Front zumindest von klaren
Gegnerschaften profitierte. Wenn man Hitler schon nicht zu fassen
bekam, dann wenigstens Sibelius, dessen „Verbrechen“ für
Adorno in der entschiedenen Ferne zur Avantgarde bestand, im
Beharren auf einer Erfahrung und einer Sehnsucht, das der kritische
Theoretiker längst als gegenstandslos, als bloßes
Symptom des Verfalls diagnostiziert hatte.
Glückliche Zeiten selbst noch in der allgegenwärtigen
Grausamkeit! Mittlerweile hat der Kitsch längst den Alltag
des bürgerlichen Bewusstseins erreicht und bestimmt ganz selbstverständlich
die Praxis der westlichen Demokratien. Was Adorno mit überwachen
Sinnen in Sibelius‘ Musik erahnte, dass es nämlich eine
Idee des Heils gibt, die das vollkommen Heillose begleitet, ja überhaupt
erst möglich macht, das ist mittlerweile die triviale und
allgegenwärtige Realität von Gesetzgebungsprozess, Regierungshandeln
und einer Öffentlichkeit, der es, wenn das „Gute“ auf
dem Spiel steht, nie rasch und weit genug gehen kann. Die lautstark
beschworene Humanität ist dabei nur noch, was schon
Adorno in ihr sah, die Maske einer entfesselten Bestialität.
Zur „größtmöglichen“ Brutalität
ist bereit, wer die Parole des Tages an die Stelle des Gedankens
setzt und heftiges, nein: hysterisches Mitgefühl angesichts
auch nur drohender Blessuren des eigenen Daseins mit entschiedener
Mitleidlosigkeit dem fremden Leben gegenüber verbindet.
Der Kitsch, der um sich greift und sich schließlich als Gewalt(bereitschaft)
entlädt, zeigt sich in der manichäischen Zweiteilung
der Welt in Gut und Böse und in einem Größenwahnsinn,
der in der Apokalypse seine letzte Zuflucht findet. Die Anmaßung,
die Welt, wenn schon nicht beherrschen, so doch zumindest zerstören
zu können, nimmt dabei zunehmend die Gestalt von Farce oder
Satyrspiel an: Wenn etwa ein Minister, ökologisch korrekt,
mit der Bahn reist, seinen gepanzerten Dienstwagen mit Chauffeur
aber nachkommen lässt, damit ihm am Bestimmungsort nichts
passiert.
Dramatischer wird es, wenn sich die Kitsch-Kulturen mit ungehemmter
Aggressivität und entschiedenem Geschäftssinn paaren.
In den USA werden so genannte „Triebtäter“ nicht
nur seit längerem an den Internet-Pranger gestellt; neuerdings
sollen Kinder vor ihnen auch durch „Schutzzonen“ geschützt
werden. Weil Kinder aber fast überall (gefährdet) sind,
nicht nur in Schulen und Kindergärten und Sportzentren, sondern
auch an Bushaltestellen und die Phantasien des Heils beziehungsweise
seiner Gefährdung durch das Böse sich keine Grenze setzen
(können), sind manche US-Städte, weil all diese Schutzzonen
sich so wunderschön überlappen und durchdringen, längst
triebtäterfrei. Der Verdächtige, auf den sich die allgemeine
Angst projiziert, ohne dass er etwas dagegen tun könnte, wird
zwar nicht liquidiert, aber im Wortsinn zum Verschwinden gebracht.
Was ist dagegen der voll emanzipierte bundesdeutsche Kitsch,
der das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ des Kindes
ausgerechnet dann entdeckt, wenn es darum geht, betrügerische
Frauen und marode Staatskassen zu schützen und zahlungskräftige
Väter, die gar keine Väter sind, weiter in Pflicht zu
nehmen. Dieselbe „informationelle Selbstbestimmung“,
die nicht die mindeste Rolle spielt, wenn wieder mal ein heilssüchtiger
Staatsanwalt Hunderttausende zum Massen-Gentest ruft oder ein findiger
Chef-Ermittler 20 Millionen Kreditkarten durchcheckt.
Kitsch ist neuerdings der Vernichtungswille im Namen des Guten,
der folglich keinen Widerspruch duldet. Und nicht mehr die gute
alte Sibelius-Sehnsucht nach einer Welt, die utopisch, also „ortlos“ ist,
weil sie, dem Adorno-Diktum zufolge, nicht dem neuesten Stand des „Material-Bewusstseins“ entspricht.