[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2007/03 | Seite 19
56. Jahrgang | März
Forum Musikpädagogik
Tantalos in der Webcam-Welt
Musik bewegt – zum 2. Internationalen Musikpädagogischen
Wettbewerb in Mainz
Für etwa 85 Prozent der Jugendlichen in Deutschland ist Schulmusikunterricht
die einzige Möglichkeit, sich für Musik und ihre verschiedenen
Stile zu sensibilisieren. An den Schulen wird diese Chance allzu
oft verkannt. Die Musikstunde wird zum Nebenschauplatz degradiert,
häufig fehlt es an inspirierenden Unterrichtskonzepten.
Doch es geht auch anders: Drei Musikpädagogen aus Niedersachsen
und Bayern haben Projekte entwickelt, mit denen sich Musik spielerisch
und im wahrsten Sinne des Wortes leichtfüßig vermitteln
lässt. Beim 2. Internationalen Musikpädagogischen Wettbewerb
in Mainz wurden ihre Konzepte zum Thema „Musik und Bewegung“ Anfang
November ausgezeichnet.
Schule macht manchmal Spaß ...“, singen etwa 80 Grundschülerinnen
und -schüler ihren Eltern vor. Die Töne zum Lied haben
sie mit Hilfe der Relativen Solmisation gelernt. Basierend auf
einer Art Code-System des italienischen Mönchs und Musiktheoretikers
Guido von Arezzo aus dem 11. Jahrhundert werden Tonhöhen in
die Silben do-re-mi-fa-so-la-ti-do und gleichzeitig in bestimmte
Armbewegungen und Handzeichen übersetzt: Ein „do“ etwa
entspricht einer vor dem Körper geballten Faust, ein „re“ ist
die schräg nach oben gestreckte Hand, ein „ti“ der
nach oben ausgestreckte Zeigefinger – unabhängig von
der jeweiligen Tonart. Das Auge singt sozusagen mit. Jenseits von
abstrakter Theorie lernen die Kinder so über ihre Bewegungen
Tonhöhen und -stufen zu unterscheiden, entwickeln eine innere
Tonvorstellung, was sie sich dann gegenseitig spielerisch anhand
von Melodie-Diktaten und kleiner Eigen-„Kompositionen“ demonstrieren
können.
Seit 2000 bietet die Geigenlehrerin Marie-Luise Jauch von der
Streicherakademie Hannover ihr Konzept „Lernen durch Musik und Bewegung“ als
außerschulische Wochenendkurse oder Projektwochen an – gemeinsam
mit ihren Kolleginnen und Kollegen Carolin Ladda (relative Solmisation),
Christine Etzold, Raphaela Martens (Singen und Tanzen), Andrea
Schneider, Matthias Entrup (Rhythmus) sowie dem Tai-Chi-Lehrer
Sven Angersbach.
Denn Teil des Wochenplans aus Solmisations-Singen, „normalem“ Lied-Singen,
Tanzen und Rhythmik ist auch Unterricht in Tai-Chi-Chuan. Durch
die fließenden energetischen Arm- und Handbewegungen dieser
alten chinesischen Bewegungs- und Kampfkunst, das tiefe Atmen und
die Gewichtsverlagerungen von einem Bein auf das andere finden
die Kinder nicht nur ihren eigenen Rhythmus, sondern auch die innere
Balance, entspannen sich und werden offen für neue Anregungen.
Nach einer Woche aus Musik und Bewegung pur werden die erarbeite-
ten Kursinhalte den Eltern vorgeführt, was zusätzlich
das Selbstbewusstsein der Kinder stärkt. Mehr als 1.500 Grundschülerinnen
und -schüler im Raum Hannover/Celle haben bereits nachhaltig
von diesen Projektwochen profitiert, die man auch bundesweit buchen
kann. Für das vielseitige Konzept, durch das viele Kinder überhaupt
erst zum Singen angeregt wurden, haben Marie-Luise Jauch und ihre
Kollegen beim Mainzer Musikpädagogischen Wettbewerb „Musik
und Bewegung“ im November einen der zwei 2. Preise bekommen,
die mit jeweils 1.250 Euro dotiert waren. Gesucht wurden innovative,
methodisch fundierte und in der Praxis erprobte Konzepte, die aus
verschiedenen Bereichen der musikalischen Bildung sowie aus interdisziplinären
und transdisziplinären Kontexten stammen konnten.
Disziplinenübergreifend und -vereinend ist auch das Konzept,
das der Schulmusiker Dr. Lars Oberhaus, der Innenarchitekturstudent
Sascha Kruse und Thade Buchborn, derzeit Assistent an der Universität
für Musik und darstellende Kunst in Wien, für eine 12.
Klasse des Schiller-Gymnasiums in Hameln ausgearbeitet haben.
Sie bringen Musik sozusagen ans Licht: 23 Schüler stehen in
einer lauen Sommernacht draußen auf einem groß
en Feld, halten Knicklichter in ihren Händen und tanzen zu
Mahlers 9. Sinfonie. Nach einer gemeinsam erarbeiteten Choreographie
folgen die Schüler der Musik und ihren Parametern. Instrumentengruppen
werden farblich unterschieden: Die Schüler mit den roten Knicklichtern
etwa folgen der Streicher-Stimme, die Tänzer mit den grünen
Knicklichtern der Bläsergruppe, Schüler mit blauen Knicklichtern
ertanzen bestimmte wichtige Soloinstrumente wie etwa die Flöte
im 1. Satz.
Der „Lichtertanz“, in den Verdichtungen und Entspannungen
der Musik ebenso einfließen wie die eigenen Emotionen, wird
mit einer Digitalkamera festgehalten, die auf Langzeitbelichtung
eingestellt ist. Die Fotos werden später am Computer aneinandergereiht
und zu einem Breitbandfoto zusammengeschnitten: Eine „Lichtpartitur“ entsteht,
die sich nun mit Mahlers Partitur vergleichen lässt.
Das Pionier-Projekt ist mannigfaltig variierbar: Statt emotionalem
Ausdruck der Musik zu folgen, könnten die Schüler sich
auch nach analytischen Gesichtspunkten bewegen, bestimmte Themen
und Motive ertanzen. Statt Mahlers 9. könnten sie auch Dux
und Comes einer Bach-Fuge zum Leuchten bringen. Statt des großen
Feldes, das Lars Oberhaus nur mit einigem bürokratischen Aufwand
organisieren konnte, tut es auch eine abgedunkelte Turnhalle oder
die Schulklasse. Statt Knicklichtern, die man in Angelhobbyläden
oder im Internet erstehen kann, lassen sich auch Taschen- oder
Fahrradlampen einsetzen. Die emotionale und analytische Struktur
komplexer Musikpartituren durch Bewegungen einmal ganz anders beleuchten – Lars
Oberhaus und seinen Kollegen ist in Hameln ein spannendes Projekt
von hohem ästhetischen Reiz gelungen.
Schön anzusehen ist auch der Tanz einiger Schülerinnen
des 11. Jahrgangs am Bernhard-Strigel-Gymnasium in Memmingen. Inspiriert
von den natürlich fließenden, gefühlsbetonten Bewegungen
der Ausdruckstänzerin Isadora Duncan ertanzen sie in ihrem
Musiksaal die antike griechische Sage von den „Qualen des
Tantalos“, der von den Göttern, die er beleidigt hat,
im Hades mit ewigem Durst, Hunger und Todesangst bestraft wurde.
Verschiedene Tanzgruppen, welche die Leiden und Unterweltorte verkörpern,
treten mit der Tantalos-Solistin in tänzerische Zwiesprache.
Die Bewegung ist Teil des Projekts „Komponistenwerkstatt
des 21. Jahrhunderts – Musik zwischen Ordnung und Zufall“,
das der Studienrat Christoph Pfaffendorf entwickelt hat, um seinen
Schülern einen Zugang zur Neuen Musik und zu neuen technischen
Mitteln zu eröffnen.
Denn die Schülerinnen tanzen zwischen einigen Webcams umher,
die mit einem Computer verbunden sind, auf dem ein Raumüberwachungsprogramm
installiert ist. Die Webcams sind so präpariert, dass sie
bestimmte Klangbausteine auslösen, sobald die Tänzerinnen
anfangen, sich in den sogenannten Überwachungskorridoren zu
bewegen. Je nachdem, an welcher Stelle im Raum sie tanzen, erklingen
eine oder mehrere der sieben zweitaktigen Kurzkompositionen, die
sie zuvor gemeinsam mit Christoph Pfaffendorf am Computer erstellt
haben. Trotz abgesprochener Choreographie komponieren die Schülerinnen
nach dem Zufallsprinzip oder der Aleatorik ihr Stück also
immer wieder neu – über ihre Bewegungen.
Bei der musikalischen Umsetzung ging es ihnen vor allem um die
psychischen Auswirkungen, welche die Qualen und der Hades auf Tantalos
haben: Sein Hunger nach Erlösung wird ausgedrückt in
einer aufsteigenden, tonalen Akkordreihe, die unaufgelöst
auf der Septime endet, die wachsende Ausweglosigkeit im Göttergefängnis
Tartaros erklingt in chromatisch aufsteigenden Cluster-Triolen.
Die Isolation im Dunkel der Erdentiefe Erebos dämmert in den
ewig gleichen Akkordbrechungen von 32tel-Figuren vor sich hin.
Auch dieses Projekt lässt sich beliebig variieren. Die Klangbausteine
können am Computer verändert und dem jeweiligen Unterrichts-Thema
angepasst werden. Grundkenntnisse der Musiktheorie lassen sich
spielerisch erlernen: Die Schüler können etwa Tonfolgen,
Tonstufen, bestimmte Rhythmusmuster oder auch eine Art Notendiktat „erlaufen“,
sie können ein Musikstück „zerstückeln“ und
im Ablauf wieder richtig zusammensetzen, sie können in einer
Art Hindernisparcours bestimmte Töne auslösen, indem
andere übergangen werden, Zusammenklänge finden, komponieren.
Für sein einfallsreiches, technisch aufwendiges Projekt hat
Christoph Pfaffendorf in Mainz den 1. Preis erhalten, der mit 2.500
Euro dotiert ist.
Innovation und Inspiration – der 2. Internationale Musikpädagogische
Wettbewerb „Musik und Bewegung“, der initiiert wird
von der Gesellschaft der Freunde und Förderer des Peter-Cornelius-Konservatoriums
der Stadt Mainz e.V. und der Music Academy For Generations, bringt
Schulmusik-Konzepte jenseits von Konvention und Langeweile ans
Licht. Die drei ausgezeichneten Projekte machen deutlich: Musik
bewegt und bringt Schüler in Bewegung. So macht Schule tatsächlich
manchmal Spaß.