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nmz-archiv
nmz 2007/03 | Seite 50
56. Jahrgang | März
Bücher
Herbert von Karajan, klangseziert
Nach kurzer Zeit ist abermals eine Biographie über den großen
Dirigenten erschienen
Peter Uehling: Karajan. Eine Biographie. Rowohlt,
Reinbek bei Hamburg 2006,
414 S., Abb., € 24,90, ISBN 3-498-06884-9
Ein Name, der jahre-, sogar jahrzehntelang als Synonym einer ganzen
Branche galt: Karajan. Selbst jene, die mit Musik eines Mozart
oder Beethoven, Wagner oder Sibelius nichts oder nur wenig anzufangen
wussten, waren in der Lage, diesen Namen irgendwie zuzuordnen:
Karajan, das bedeutete „Klassische Musik“. Umso verwunderlicher,
dass ausgerechnet er, der wie kaum ein anderer seiner Zunft darum
bemüht war, sich und seine Kunst auf diversen Medien post
mortem zukunftstauglich zu machen, in relativ rascher Zeit vergleichsweise
viel von seinem Ruhm verloren hat.
Peter Uehling, Kirchenmusiker und Musikkritiker aus Berlin, hat
nun Karajans Leben neu erzählt und hebt gleich im Vorwort
hervor, dies sei das „erste größere Buch über
Karajan, dessen Autor den Dirigenten nicht mehr kennen lernen konnte“.
Ob daraus automatisch eine „gesteigerte Objektivität“ erwachsen
ist, darf jedoch bezweifelt werden.
Nach Richard Osbornes 1998 erschienener und 2002 erstmals ins
Deutsche übersetzter
Karajan-Biographie hat es Uehlings Buch zweifellos schwer und kann
sich in Detailgenauigkeit, Materialfülle und Neuentdeckungen
nicht mit Osborne messen. Daher verfolgt Uehling einen anderen
Ansatz. Er setzt mehr auf die künstlerische Entwicklung des
Dirigenten, er durchleuchtet sein Werkverständnis, vergleicht
Plattenaufnahmen, sucht nach einer übergeordneten Klangästhetik.
Keine Frage: Uehling hat, trotz einiger Unschärfen, Karajans
musikalisches Vermächtnis gründlich durchforstet, hat
Notentexte und deren Umsetzung auf Tonträger genau und urteilssicher
einander gegenübergestellt. Ein Ansatz, der Anerkennung verdient,
auch wenn sich dadurch bei der Lektüre einige Längen
und Widersprüche ergeben. Dem Verfasser gelingt es, dank seiner
präzise und klar formulierten Haltung, nachzuweisen, dass
es Karajan vor allem bei seinen Beethoven- und Bruckner-Deutungen
weniger um „die Individualität der einzelnen Werke“ ging
als vielmehr um ein übergreifendes, mitunter sogar übergestülptes
Konzept. Für Uehling ist Karajan „kein analytischer
Dirigent im Hinblick auf die Details, auf die Entwicklung von Motiven,
auf den Zusammenhang der Partikel“. Vielmehr tritt die „Gegenständlichkeit
der Themen“ hinter „der Abstraktion elementarer Formen
zurück“. Auf diesem Hintergrund wertet der Autor beispielsweise
Karajans Mahler-Erkundungen überaus kritisch. Allerdings sehnt
sich der Leser gerade hier nach Vergleichen, vor allem mit den
Einspielungen von Karajans Generationskollegen Leonard Bernstein
und Georg Solti, die mit ihren Produktionen dem Mahler-Boom Ende
des 20. und am Beginn des 21. Jahrhunderts entscheidend den Weg
geebnet haben.
Überhaupt sind die Vergleiche zu den Schwachstellen dieses
Buches zu zählen. Allzu oft werden lediglich die vermeintlichen Antipoden
Furtwängler und Toscanini als Bezugsgrößen aufgeführt,
wobei Toscanini durchweg auf fast penetrante Weise abgestraft wird.
Zwar arbeitet Uehling stellenweise mit Metronomangaben und gemessenen
Sekunden, doch bleibt die übergeordnete Einordnung des Karajan’schen
Vermächtnisses lückenhaft. So spielen etwa Klemperer
und Bruno Walter in seiner Untersuchung keine Rolle, ebenso wenig
Giulini oder, gerade bei Bruckner schmerzlich vermisst, Günter
Wand.
Um die Glaubwürdigkeit oder, dem entgegen, die Widerspruch
weckende Ausrichtung seiner Urteile stärker hervorzuheben,
wäre ein gelegentlicher Blick auf die fast zahllosen Äußerungen
der Musikkritik sinnvoll gewesen. Doch dem verweigert sich Uehling
konsequent, er bemüht weder Rundfunkarchive noch Tagespresse
oder Fachjournale. Gerade hier aber hätte der Autor Pionierarbeit
leisten können, da eine solche Betrachtung der Karajan-Rezeption
bis heute aussteht. Umgekehrt jedoch zeugt Uehlings Vorgehensweise
von gesundem Selbstbewusstsein. Er vertraut allein den eigenen
Höreindrücken – und verleiht so dem Ganzen eine
eben doch betont subjektive Ausrichtung. Im Vorwort begründet
Uehling dieses methodische Vorgehen mit der Bemerkung, dies sei
ein „Buch, das nicht Material herbeischafft, sondern sich
der Reflexion widmet“.
Dadurch bleiben allerdings einige Aspekte von Karajans Dirigentenleben
unterbeleuchtet. Jene Dirigenten, die von und bei Karajan mehr
oder minder intensiv gelernt haben, werden lediglich namentlich
erwähnt. Auch Karajans Förderung junger Solisten spielt,
mit Ausnahme der Exkurse über Anne-Sophie Mutter und Sabine
Meyer, keine Rolle. Hier wäre Gelegenheit gewesen, das „Phänomen
Karajan“ aus mehrperspektivischem und somit auch Distanz
schaffendem Blickwinkel zu betrachten.
Insgesamt ein Buch, das Bewunderung und Verwunderung gleichermaßen
hervorruft, das ebenso glänzend geschriebene Passagen enthält
wie einige diffuse Abschnitte, die nach Präzisierung verlangen.
Uehlings Ansatz, den Künstler Karajan in den Vordergrund zu
stellen, ist mutig und dürfte manchen Musikerbiographien zum
Vorbild gereichen, auch wenn die Umsetzung noch einiger Modifizierungen
bedarf. Editorisch ist es sicher ein Mangel, dass der Leser am
Ende auf eine Liste der diskographischen Angaben verzichten muss,
nachdem er zuvor so viel über Karajans Einspielungen en detail
erfahren hat.