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nmz-archiv
nmz 2007/05 | Seite 41
56. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Zwischen Träumen und Alpträumen
Peer Nörgards Wölfli-Musiktheater „Der göttliche
Tivoli“ in Lübeck
Der Orchestergraben in der Lübecker Oper prallgefüllt
mit Schlagwerk aller Art, darunter balinesische Instrumente, in
einer indonesischen Gamelan-Fabrik gefertigt nach den Anweisungen
des Komponisten, das alles bedient von sechs Spielern; dazu ein
Synthesizer und ein elektronisch verstärktes Cello: eine sich
ins Brutale aufbäumende Klangwelt. Peer Nörgard hat sie
geschaffen für Adolf Wölfli, den Berner Bub, der in 35
Jahren im Irrenhaus zum Dichter, Zeichner und Musiker geworden
ist und sich mit seiner Kunst aus einem elenden Leben zu befreien
versuchte. Er ist hinter Gittern entflohen in eine unendliche Weite,
die er mit seinen Träumen und Ängsten, mit sich selbst
in vielerlei Gestalt bevölkert hat, aus Hoffnungen immer wieder
ins Chaos stürzend, ein „Fortsetzungsroman eines lückenlosen
Universums – zehnmilliardenmal höher als die paar Akten
zu seiner Person“, wie Adolf Muschg 1986 so treffend geschrieben
hat.
Im
Leben wie im Kopf gestrandet: der Dichter, Zeichner und
Musiker Adolf Wölfli. Foto: Björn Hickmann
Wölfli, 1930 in der Verwahranstalt bei Bern gestorben, ist
heute für die Verbindung von Genie und Wahnsinn eine der wichtigsten
Bezugspersonen. Seit Hans Prinzhorn seine Sammlung von Wölflis
Malereien der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat, fehlt sein
einstiger Patient in kaum einem Lehrbuch der Psy-chiatrie. Rilke
und Dubuffet beschäftigte sein Schicksal. Als Wolfgang Rihm
Bilder Wölflis sah, komponierte er, parallel zu seinem „Jakob
Lenz“, dem Porträt der Hellsichtigkeit im geistigen
Verfall, die Wölfli-Lieder. Fast gleichzeitig, seltsame Koinzidenz,
schrieb Peer Nörgard sein Musiktheater „Der göttliche
Tivoli“, das Innenwelt wie Außenwelt des im Leben wie
im Kopf Gestrandeten ineinander verschränkt. Er kehrt die
kargen Fetzen seines armseligen Daseins zusammen, das mit 31 Jahren
nach Notzuchtsversuchen an Kindern in die Irrenanstalt führte.
Er konfrontiert sie mit seinen Obsessionen. Wölfli war der
Freiheit beraubt, aber er türmte sich mit den überbordenden
Fluten seiner Schriften und Bilder, mit rastloser Sehnsucht und
Wut aufs Papier geworfen, ein grenzenloses Phantasiereich auf,
das er selbst in vielerlei Gestalt und Ungestalt bevölkerte.
Er erfand sich sein Leben neu. Größe und Größenwahn,
sie sind hier nicht mehr zu trennen. Nörgard hat mit instinktivem
Blick fürs Theater aus den Trümmern dieser Existenz und
seiner Träume und Alpträume eine formale Ordnung der
Szenen und Texte gezimmert, die den Ausbruch in die Unordnung immer
wieder erzwingt. Und Sandra Leupold, die junge Regisseurin in Lübeck,
hat anschaulich enträtselt, was so verrätselt scheint.
Sie hat zusammen mit ihrer Szenographin Barbara Rückert Bildwelten
und Räume erfunden, in denen die Realität buchstäblich
immer wieder davonfliegt und alle räumlichen Begrenzungen überwindet.
Der erste Teil des Stückes spielt in einer dörflichen
Gaststube mit Momenten aus dem Leben des jungen Wölfli – so
surreal verzerrt, wie sie der festgesetzte Wölfli in seinen
Erinnerungen wiederfindet. Und im zweiten Teil brechen die Gitter
und Wände des Eingekerkerten auf, der auf imaginäre Reisen
geht und immer wieder stürzt und abstürzt, bis er am
Ende, sich wie in einem Kokon in die Welt seiner Bilder, ihrer
Ornamente und Farben einspinnend, beruhigt und die Musik sich fast
choralartig nach einer von Wölfli komponierten Weise zurückzieht.
Seine Kunst wird nun gleichsam zur Retterin seiner selbst.
Am Anfang des Abends aber steht der geradezu chaotische Ausbruch
eines ausgedehnten Schlagzeug-Solos. Zwischen diesen Polen bewegt
sich Nörgards Musik, immer wieder wild und unbeherrschbar
ausbrechend, aus Besinnungs-Momenten konzentrierter Ruhe. Die Sänger,
die sich kaum auf kantable Sicherheitsnetze abstützen können
und in exaltierter Hochspannung zwischen Singen und Schreien, Sprechen
und Stottern immer neue umstürzende Stimmungslagen durchmessen
müssen, haben in Lübeck Hochseilartistik nicht nur im
Stimmlichen, sondern auch im Agieren zwischen allen Höhen
und Tiefen, zwischen Flug und Fall abzuleisten. Sie schaffen es,
geleitet von Dorian Keilhack, der die vielen musikalischen
Gratwanderungen durchmisst; angeführt von Hubert Wild, der
als erster der vier Wölfli-Aufspaltungen den hohen Rang der
Aufführung bestimmt.
„
Der göttliche Tivoli“ beschließt die lange Reihe
neuer skandinavischer Opernwerke, die Marc Adam in seinen nun zu
Ende gehenden Lübecker Jahren vorgestellt hat. Er beschließt
sie radikal. Mutiger im thematischen Zugriff, in der szenischen
und musikalischen Struktur als Nörgard hat sich keiner der
Nordländer der Szene bemächtigt. Man will es kaum glauben,
dass dieses Stück, bereits 1983 in Aarhus uraufgeführt
und mehrfach, nur nicht in Deutschland, nachgespielt, schon ein
Viertel Jahrhundert alt ist. Es wirkt jünger, attackierender
als vieles, was seither geschrieben worden ist. Und obschon es
quersteht zu allen gewohnten Erwartungshaltungen, hat das Stück,
hat vor allem auch seine Lübecker Einrichtung zu Ovationen
ohne Ende geführt.