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nmz-archiv
nmz 2007/05 | Seite 39
56. Jahrgang | Mai
Oper & Konzert
Endlose Spirale: eine Mechanistik des Grauens
André Werners Oper „Lavinia“ am Theater Osnabrück
uraufgeführt · Von Gerhard Rohde
Die blutigen Unruhen in aller Welt, die Kämpfe zwischen verfeindeten
Stämmen oder Religionsgemeinschaften, das Gieren nach Macht
und ökonomischen Ressourcen bestimmen das weltpolitische Klima
unserer Tage. Die Stichworte heißen Irak, Afghanistan, Sudan.
Jeden Tag melden die Medien Dutzende von Toten. Die Attentate häufen
sich. Grausamkeit scheint immer mehr die Welt zu beherrschen. Sensible
Menschen leiden unter solchen Zuständen. Der Künstler
versucht sich aus den Bedrängungen zu retten. Er setzt sein
Schaffen zur psychischen Bewältigung seiner Beobachtungen
und Erfahrungen ein.
Gelungene
Uraufführung sichert dem Osnabrücker Auftragswerk
ein überzeugendes Entree. Foto: Klaus Fröhlich
Eine Möglichkeit bietet sich an: der Blick zurück auf
die lange Ahnenreihe der Kollegen. Was die Dichter von einst überlieferten,
scheint die dumpfe Ahnung zu bestätigen: Der Mensch ändert
sich nicht. Er bleibt seinem Wesen im tiefsten Innern verhaftet.
Shakespeare hat das wohl mit am besten erkannt. Seine Werke sind
dramatisierte Menschenkunde auch ohne Sigmund Freud. Allerdings
kannte Shakespeare auch die Bedürfnisse seines Publikums.
Er gab dem Affen im Zuschauer Zucker, wenn er die Schlechtigkeit
der Welt grell ausgemalt auf die Bühne stellte, zum Beispiel
in seiner ersten Tragödie „Titus Andronicus“.
Von den dort abgehandelten Greueln könnte die heutige Boulevardpresse
jahrelang leben. Das traf den Geschmack von Shakespeares Zeitgenossen:
Von fünfundzwanzig Personen sind am Ende vierzehn tot. Das
erscheint uns heute für ein Theaterstück doch etwas übertrieben,
auch wenn gerade wieder einmal ein Amokläufer eine ähnliche
Statistik in der Wirklichkeit erstellt hat.
Dass sich aus dem Gewirr von Morden, Folterungen, Schändungen
bis hin zu jener bekannten grauslichen Szene, in der der Feldherr
Titus Andronicus den geladenen Gästen, seinen Feinden, deren
geschlachtete Söhne in Pastetenform vorsetzt, auch ein gehobenes
Modell menschlicher Existenzformen gewinnen läßt, haben
einige Darstellungen plausibel gezeigt, am wohl einprägsamsten
Peter Brooks Inszenierung von 1955, die dann in vielen europäischen
Theaterstädten zu erleben war. Im Gemetzel wurden die archaischen
Urkräfte erkennbar, die das menschliche Leben bestimmen.
Wenn heute ein Komponist sich den Titus-Andronicus-Stoff zur
Vorlage einer Oper erwählt, steht ihm das kurz umrissene zeitgeschichtliche
und aktuelle Panorama plastisch und emotional bewegend vor Augen.
In seiner Oper „Lavinia A.“, für das ihm Gerd
Uecker unter Verwendung von Shakespeares Tragödie und Heiner
Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespeare-Kommentar“ das
Libretto schrieb, strebt André Werner kein individuelles
Personendrama an, er personifiziert vielmehr die „Mechanistik
des Grauens“ (Carin Marquardt im Programmheft). Aus einem
langen Krieg zurückgekehrt, setzen die beteiligten Parteien
das Gemetzel quasi im Familienbetrieb fort. Werner und Uecker haben
Shakespeares Vorlage entsprechend konzentriert. Nur noch vier Personen
bestreiten die Hauptaktionen: neben Titus dessen Gefangene, die
Gotenkönigin Tamora, seine Tochter Lavinia und der „böse
Geist“ des Aaron, der wie ein ins Grauenhafte gewendeter
Puck durch diesen blutigen Albtraum jagt.
Was demonstriert werden soll, könnte man auch in einem Lehrbuch
der Psychologie nachlesen: wie sich Aggressionen aufbauen, immer
weiter steigern, bis sie nicht mehr
umkehrbar sind. Die aggressiven Energien enden erst, wenn sie erschöpft
in sich zusammenfallen. Auf aktuelle Zustände in der Welt
projiziert, ist das allerdings eine wenig befriedigende Hoffnung.
André Werners Musikalisierung der szenischen Gestalten hält
sich von jedem nur-opernhaften Gestus fern. Was das kammermusikalisch
besetzte Orchester mit jeweils drei Trompeten und Hörnern,
zwei Posaunen, zwei Klavieren, Perkussion und kleiner Streicherbesetzung
sowie Live-Elektronik spielt, gleicht eher einem komponierten Kommentar
zu den Ereignissen auf der Bühne. Gleichwohl bietet die Musik
auch Atmosphärisch-Bildhaftes, wenn etwa dumpfe Trommelschläge
beim Auftritt des Chores Unheilvolles signalisieren, sie funktioniert
auch konstruktiv mit rotierenden Skalen, analog zur sich steigernden
Bewegung der Gewalt auf der Szene. Holzbläser finden sich
in der Partitur nicht, sie würden das Klangbild wohl zu stark „romantisieren“.
Werners „Lavinia“-Musik fesselt und überzeugt
durch ein gehärtetes Klangrelief, mit dem das Geschehen auf
der Bühne eine fast schmerzhafte Schärfe gewinnt. Die
Osnabrücker Uraufführung – „Lavinia“ entstand
im Auftrag des Theaters Osnabrück – sicherte dem Werk
ein überzeugendes Entree. Die Spielfläche in der Mitte
wurde seitlich von zwei hohen Podesten für den Chor begrenzt.
So entstand ein leicht oratorischer Eindruck, so wie bei Orffs
Antikenstücken. Hier mischt sich
der Chor aber immer wieder auch aktiv ins Spiel ein, ist nicht
nur Kommentator, auch Akteur. Die Inszenierung Kay Kuntzes im Bühnenraum
Frank Michael Zeidlers sichert dem Werk so eine quasi antikische
Darstellungsform, eine zwingende Objektivierung des Geschehens.
Es ist immer wieder erstaunlich zu erfahren, mit wie viel Ehrgeiz
und zugleich Kompetenz in der sogenannten Provinz die Sänger
und Orchester agieren. Das Osnabrücker Symphonieorchester
unter Hermann Bäumer präsentierte sich so aufmerksam,
engagiert und vertraut mit allen Schwierigkeiten, als wollte es
dem Ensemble Modern Konkurrenz machen. Genadijus Bergorulko war
vokal und im Spiel ein eindrucksvoller Andronicus, Karen Fergurson
als seine geschundene Tochter Lavinia, intensiv in Gesang und Spiel,
beeindruckte vor allem als sprachlose Leidens-Ikone, nachdem sie
von den Söhnen der Kaiserin Tamora geschändet und verstümmelt
worden war. Dieser Tamora gab Eva Schneidereit das treffende ehrgeizige
Profil: am Schönsten
ist die Rache an der unterlegenen Konkurrentin. Yoonki Baek spielte
den zwielichtigen Aaron vor allem darstellerisch höchst beweglich
aus. Den sehr präsent wirkenden Chor hatte Peter Sommerer
einstudiert. Bemerkenswert auch das Publikum: Es will scheinen,
daß ein engagiertes Musiktheater allmählich auch beim „normalen“ Opernbesucher
immer mehr Interesse findet.