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nmz-archiv
nmz 2007/05 | Seite 14
56. Jahrgang | Mai
Gegengift
Je besser,
desto schlechter
Eine Frau von 50 Jahren fährt, zunehmend panisch, mitten in
der Nacht Dutzende von Kilometern zu ihrer alten Mutter, die seit
Stunden telefonisch nicht zu erreichen ist. Sie befürchtet
das Schlimmste. Endlich angekommen, trifft sie ihre Mutter, ähnlich
aufgeregt und aufgelöst, die gerade vom Nachbarn kommt. Was
ist passiert? Nun ja, der Fortschritt hat zugeschlagen. Wer heutzutage
ein Telefon möchte, mit dem man nichts kann als anrufen und
Anrufe entgegen nehmen, der gilt als so verrückt, dass man
seine Wünsche ohne Weiteres ignorieren kann. Als „schlichtes“ Modell
gilt ein Telefon, das nicht mehr als hundert Grundfunktionen hat.
Die Skeptiker beruhigt der stolze Fachmann mit dem Hinweis, was
man gerade partout nicht wolle oder brauche, könne man ja,
von Fall zu Fall, „wegprogrammieren“. Auch das gebe
dieser Apparat her. Im vorliegenden Fall hatte die Kundin – auf
welche Weise lässt sich bei dem entfesselten OrgienMysterienTheater
namens avancierte Technik nicht mehr so ohne weiteres nachvollziehen – offenbar
eine Funktion in Gang gesetzt, die, wenn man gerade nicht da ist,
die Nummern aller Anrufer speichert. Solange dieser Service aber
nicht aktiviert oder zumindest desaktiviert ist, verhindert sie
allerdings auch, dass man anrufen oder angerufen werden kann. Nur
ein kleines Lichtlein blinkt. Wahrscheinlich eine „schlaue“ Funktion,
die ausschließen soll, dass man über diese wunderbaren
Informationen gedankenlos hinweggeht. Der Nachbar wusste schließlich
Rat. Es waren nur fünf Tasten, wenn auch in der richtigen
Reihenfolge, zu drücken, dann war das Malheur beseitigt. Und
der Fachmann sagte am nächsten Tag: Wo ist das Problem?
Sie haben doch eine ausführliche Gebrauchsanleitung.
Vielleicht sind diese ausführlichen Gebrauchsanleitungen eines
der Probleme. Wer einen simplen Staubsauger kauft, erhält
ein Buch, das dicker ist als ein durchschnittlicher Suhrkamp-Band
und dessen verständnisvolle Lektüre auch mehr Zeit erfordert.
Das hält der Spezialist, der sich bei seinen „Verbesserungen“ so
viel Mühe gemacht hat, nur für recht und billig. Jeder,
der seine Zeit nicht mit der Lektüre von Handy-, Staubsauger-
oder Computergebrauchsanweisungen verbringt, gilt heute in der
Branche als verschroben. Weil er nicht zur „Zielgruppe“ gehört,
müssen seine Einwände und Bedürfnisse nicht weiter
ernst genommen werden.
Fataler und tendenziell geschäftsschädigend wirkt da
schon der Umstand, dass ein „content“ umso schlechter
bei uns ankommt, je avancierter er daherkommt. Mit der guten alten
Vinyl-Schallplatte oder dem Tape-Mitschnitt konnte man noch machen,
was man wollte. Die heutigen CDs und DVDs der jeweils neuesten
Generation werden von den Verkäufern nach allen Regeln der
Kunst so hergerichtet, dass sie für den Käufer tendenziell
unbrauchbar werden. Er kann sie nicht mehr kopieren, auch nicht
für private Zwecke. Der Kopierschutz bewirkt, dass immer mehr
Geräte den geschützten „Text“ überhaupt
nicht mehr entziffern können. Und bei „downloads“ aus
dem Internet wird der verkaufsfördernde Verfall gleich mitgeliefert.
Wer ein und denselben Song mehr als ein halbes Duzend mal hören
möchte, gilt als verrückt (wie die Oma, die ein einfaches
Telefon möchte) oder gleich als kriminell.
Wer wünscht sich immer neue, immer avanciertere Technologien,
die vorhandene Sammlungen und Archive entwerten? In Quentin Tarantinos
wunderbarem Film „Jackie Brown“ gibt es eine Szene,
in der die Heldin, eine schwarze Stewardess mittleren Alters, die
in Schwierigkeiten steckt, sich über ihre kleine Plattenkiste
beugt, weil sie ihrem „Retter“ einen Song von den Delfonics
vorspielen möchte. Auf seine (gespielt!) erstaunte Frage,
ob sie denn nicht auf CDs oder dieses neue Zeug umsteigen wolle,
antwortet sie nur: Ich kann es mir nicht leisten immer wieder von
vorn anzufangen. Eine lebenssatte Einsicht. Die Versprechen der
rasant fortschreitenden Technik dagegen sind solche der immer wieder
neuen Leere und des Zwangskonsums. Der immer neuen Möglichkeiten,
die einem das Leben, die Erinnerungen und den kostbarsten aller
Rohstoffe (Zeit!) rauben. Ganz junge Leute erkennt man daran, dass
sie es „geil“ finden, über möglichst viele
Funktionen zu verfügen. Mit so viel Funktionen muss die Freiheit
grenzenlos sein. Wer würde da schon den Schweiß scheuen,
sich mit ihnen vertraut zu machen.
Die definitive Tragikomödie der modernen Technik, die einen
zum Sklaven macht und entwürdigt, findet sich in „Jahrmarkt
der Eitelkeiten“, Tom Wolfes Roman über das Yuppie-Größenwahn-Jahrzehnt,
die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts, im Moloch New York. Da
besitzt ein Börsenmakler, der sich selbst als „master
of the universe“ begreift, eine Multi-Millionen-Maisonette-Wohnung
mit allem, was das Techniker-Herz begehrt – und muss doch,
wenn er seine Geliebte anrufen möchte, bei strömendem
Regen und einem sich sträubenden Hund an der Leine, zur nächsten öffentlichen
(und natürlich sehr „old-fashioned“) Telefonzelle.
Warum? Weil diese Wunderwerke der Technik alles, was sie können,
auch noch dokumentieren. Und wenn man diese Möglichkeit unterdrückt,
also Spuren verwischt, wird die Ehefrau zurecht misstrauisch.
Und wozu der Hund? Er ist das Alibi. Er will angeblich unbedingt
nach draußen, auch wenn er sich mit allen Vieren sträubt,
weil ihm sein gesunder Instinkt sagt, dass das Trockene besser
ist als das Nasse. Und was tut der Herr des Universums, wenn er
endlich Hund, Schirm und sarkastische Nachbarn „im Griff“ hat?
Er ruft bei seiner Ehefrau an. So viele Möglichkeiten und
immer derselbe Zwang. Ein Menetekel für die hochauflösende
Projektionsfläche der Moderne: Je besser, desto schlechter.
Könige werden zu Knechten. Wer seine Souveränität
bewahren möchte, sollte abrüsten und auf die „Jackie
Brown“ in sich hören.