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nmz-archiv
nmz 2007/05 | Seite 16
56. Jahrgang | Mai
Forum Musikpädagogik
Damoklesschwert oder Chance?
Bachelor und Master – Zur Musikausbildung an deutschen Musikhochschulen · Von
Jörg Fabig
Bundesweit sind Musikhochschulen mit der Einführung der Studienabschlüsse
Bachelor und Master konfrontiert. An vielen Hochschulen wird die
Notwendigkeit dieser internationalen Harmonisierung kontroverse
Diskussionen über Ziele und Inhalte des Musikstudiums hervorrufen.
Diese Diskussion ist dringend notwendig; der vorliegende Aufsatz
soll einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten.
Zur Ausgangssituation: Im Wesentlichen teilen sich die Studiengänge
an deutschen Musikhochschulen vom Beginn des Studiums an in drei
grundsätzliche Richtungen. Diese Richtungen arbeiten auf unterschiedliche
Berufsbilder hin: Die künstlerische Ausbildung (insbesondere
die Studiengänge „Diplom Orchestermusiker“), die
auf den Beruf als Orchestermusiker beziehungsweise Solist vorbereiten
sollen, die musikpädagogische Ausbildung (meist „Instrumentalpädagogik“ oder „Diplom
Musiklehrer“ als Studienbezeichnung), die zum Lehrer für
ein bestimmtes Instrument, Gesang oder Elementares Musizieren an
Musikschulen und sonstigen Musikausbildungseinrichtungen vorbereiten
soll, und die Ausbildung zum Schulmusiker, also Lehrer für
das Fach Musik an allgemeinbildenden Schulen, die wie alle Lehramtsstudiengänge
mit dem Staatsexamen abgeschlossen wird und wegen der Kombination
mit anderen Lehrfächern einen besonderen Status in der Ausbildungs-
und Prüfungsordnung hat.
Diese Trennung findet sich in unterschiedlicher Ausprägung
an allen deutschen Musikhochschulen. Die Einteilung in einen
entsprechenden Studiengang findet in der Regel nach der Aufnahmeprüfung
statt, meist sind bereits die Aufnahmeprüfungsanforderungen
für die unterschiedlichen Studiengänge sehr stark abgestuft:
großer Schwerpunkt auf dem Hauptfach bei den künstlerischen
Studiengängen, gro-ßer Schwerpunkt auf Vielfalt und
allgemeiner Musikalität bei den Schulmusik-Studiengängen,
die Anforderungen an die zukünftigen Instrumental- und Gesangspädagogen
dazwischen.
Erste Anmerkungen
Dieses System besteht seit Jahrzehnten in Deutschland und wurde
bisher selten in Frage gestellt. Aber entspricht es noch den heutigen
beruflichen Realitäten? Hierzu
einige Anmerkungen: Die Musikausbildung stellt mit der klaren Ausrichtung
auf ein bestimmtes Berufsbild (abgesehen von den Lehramtsstudiengängen)
ein absolutes Unikum dar: Niemand studiert an einer deutschen Universität „Diplom
Versicherungsmathematiker“ oder „Diplom Verlagslektor“ – die
entsprechenden Berufe werden von Personen wahrgenommen, die ein
Diplom in Mathematik oder einen Magister in Sprachwissenschaften
erworben haben. Selbst die Studiengänge an Fachhochschulen
sind allgemeiner ausgerichtet – ein Diplom Mechatroniker
(FH) oder eine Diplom Verwaltungswirtin (FH) werden in vielen Berufsfeldern
eine Anstellung finden können.
Ein hoher Prozentsatz der Schulmusikstudenten schreibt sich nach
dem Staatsexamen noch für ein Zusatzstudium mit Abschluss „Diplom
Musiklehrer“ (oder entsprechend) für das gewählte
Hauptfachinstrument ein. Grund hierfür ist sicherlich der
Wunsch, sich mit dem Hauptfachinstrument intensiver auseinanderzusetzen,
als es die vielschichtigen Anforderungen des Schulmusikstudiums
zulassen.
Ein verschwindend geringer Prozentsatz der erfolgreichen Absolventen
eines Orchester-Studienganges erhält nachher tatsächlich
einen Platz in einem Berufsorchester. Je nach Instrument kommen
jährlich bis zu hundert Absolventen auf eine zu besetzende
Orchesterstelle. In welche Richtung sich die Anzahl der zu
besetzenden Arbeitsplätze in Orchestern in Zukunft entwickeln
wird, ist wohl jedem Musikschaffenden in Deutschland bewusst. Ebenso
steht es um die ausgebildeten Solisten, die ausschließlich
mit ihrer künstlerischen Tätigkeit ihren Lebensunterhalt
verdienen (Sänger, Pianisten, Gitarristen und so weiter).
Folgen gesellschaftlicher
Veränderungen
Diese Beispiele zeigen auf, warum eine so stark an das spätere
Berufsbild gebundene Ausbildung möglicherweise nicht mehr
zweckmäßig ist. Darüber hinaus haben Studien ergeben,
dass heute 80 Prozent aller Absolventen deutscher Musikhochschulen
zumindest einen Teil ihres Einkommens durch musikpädagogische
Arbeit erwirtschaften. Hier sind unterrichtende Orchestermusiker
ebenso erfasst wie „normale“ Gymnasiallehrer, aber
auch an Grundschulen als Aushilfskräfte eingesetzte Diplommusiklehrer.
Die Berufsbilder verschwimmen mehr und mehr: Teilzeitbeschäftigte
Musiklehrer an allgemeinbildenden Schulen verdienen sich ein Zubrot
durch „Muggen“, Orchestermusiker in den unteren Tarifgruppen
(Polizeiorchester, TVK-C-Orchester und so weiter) unterrichten
nebenberuflich an Musikschulen, Orchestermusiker aus Rundfunkorchestern
bilden als Lehrbeauftragte an Hochschulen Studenten aus.
Auch – im wirtschaftlichen Jargon formuliert – auf
der Angebotsseite hat sich vieles verändert. Während
die Kulturämter und sonstigen Konzertveranstalter ihre Kammermusikreihen
und Orchesterkonzerte immer mehr ausdünnen (müssen) und
die Opernhäuser mit großer Mühe versuchen, neues,
junges Klientel zu gewinnen, um eine Vergreisung des Publikums
zu verhindern, schießen die Musik-„Events“ wie
Pilze aus dem Boden. Festivals, Workshops, Sommerkurse stehen bei
Publikum wie Teilnehmern, sei es im semiprofessionellen oder
im Laienbereich, hoch im Kurs. Auch die Veränderungen von
Familienstrukturen in Deutschland haben eine Auswirkung auf den
Arbeitsmarkt für Musikschaffende. Die Entscheidung,
Kinder zu haben, wird heute zwar zahlenmäßig seltener,
dafür aber bewusster getroffen. Deutsche Eltern – zumindest
in Schichten mit höherem und gehobenem Lebensstandard – legen
sehr großen Wert auf Förderung ihrer Kinder. Entsprechend
ist die Nachfrage nach musikalischen Veranstaltungen vom Kleinkindalter
an höher denn je zuvor. Manche Instrumentengruppen erleben
einen regelrechten Nachfrageboom, die Wartelisten der öffentlichen
Musikschulen sind in einigen Bereichen sehr lang. Eine entscheidende
Veränderung wird sich durch die im Wandel begriffene Ausrichtung
der allgemeinbildenden Schulen ergeben. Immer mehr Nachmittagsunterricht
in den achtjährigen Gymnasien sowie mehr und mehr Ganztagsschulen
erfordern ein Umdenken, verändern das Freizeitverhalten der
kommenden Generationen und werden auch die Nachfrage nach
qualifizierter Musikpädagogik beeinflussen. Kooperationen
zwischen Musikausbildungsinstitutionen und Schulen, im Stundenplan
der Schulen integrierte Großgruppenangebote und Nachmittagsangebote
von freien Musikträgern müssen miteinander vernetzt werden,
wenn den Jugendlichen nach der Grundschulzeit noch die Möglichkeit
gegeben werden soll, aktiv zu musizieren und Musik nicht nur zu
konsumieren. Auch dieser Wandel bringt neue Herausforderungen – aber
auch Chancen – für die Musikpädagogik in Deutschland.
Konsequenzen
Es ist daher dringend notwendig, diesen veränderten gesellschaftlichen
Anforderungen auch in der inhaltlichen Ausrichtung der Musikhochschulausbildung
Rechnung zu tragen. Die Einführung der Abschlüsse Bachelor
und Master bietet hier eine gute Chance, die Lehrpläne den
beschriebenen Trends anzupassen.
Junge Menschen, die ein Musikstudium aufnehmen wollen, sind über
die beruflichen Möglichkeiten oft nur unzureichend informiert.
Natürlich träumt jede und jeder, die einmal in einem
Auswahlorchester (Landesjugendorchester, Bundesjugendorchester
und so weiter) musiziert hat, von einem Platz in einem großen
Rundfunksinfonieorchester. Das bisherige Ausbildungssystem zwingt
sie, sich diesem Ziel vom ersten Semester an zu verschreiben und
selbstverständlich auch – in der Regel überzogene – Erwartungen
an das zu leistende Übepensum zu knüpfen. Es wäre
ehrlicher, die jungen Menschen realistisch auf ihre beruflichen
Perspektiven einzustimmen und gezielt vorzubereiten. Ein „gescheiterter“ Orchestermusiker
wird sehr wahrscheinlich ein frustrierter Musiklehrer. Dabei kann
auch der Musiklehrer, wenn er mit der geeigneten Einstellung und
vor allem fundierter methodischer Ausbildung zu Werke geht, zum
Zentrum seiner Arbeit machen, was ihn einmal studieren ließ:
die Freude an der Musik! Insofern könnte sich die Frage der
Einteilung in Studiengänge ab dem ersten Semester erübrigen:
Grundstein der Ausbildung für alle ist der Bachelor.
Der Bachelor sollte neben der künstlerischen Ausbildung im
Hauptfach einen zweiten Schwerpunkt im Bereich Didaktik und Methodik
des Hauptfachinstrumentes sowie instrumental- und musikpädagogischen
Themen haben, die eng mit den Möglichkeiten des Hauptfaches
verbunden sind. So sollten beispielsweise Bläser und Streicher
mit Konzepten des heterogenen Klassenunterrichts konfrontiert werden,
Schlagzeuger und Gitarristen sich mit Konzepten für Unterricht
in Großgruppen vertraut machen, Sänger auch Chor-, insbesondere
Jugendchorleitung studieren. Selbstverständlich sollten instrumentales
Nebenfach und Nebenfächer wie Musikgeschichte, Instrumentenkunde,
Formenlehre, Musiklehre, Tonsatz und Gehörbildung in
gleichem Maße vertreten sein wie in der bisherigen instrumentalpädagogischen
Ausbildung. Aufgrund der kürzeren Zeit, die zum Erreichen
des Bachelor eingeplant werden muss, können allerdings die
Anforderungen an das Hauptfach in der Abschlussprüfung nicht
in dem Maße übernommen werden wie in der bisherigen
Diplommusikpädagogik-Ausbildung.
Im Master-Studiengang sollten die Studierenden ihren Neigungen
entsprechend ihre Ausbildungsschwerpunkte vertiefen. Das Studium
des Hauptfachinstrumentes allein könnte zum Beispiel im Vordergrund
stehen, wenn die Abschlussprüfungsnote im Hauptfach bei
der Bachelor-Prüfung Potenzial für eine vielversprechende
künstlerische Entwicklung offenbart hat. Studierende mit nachgewiesenen
hervorragenden Qualitäten im methodisch-didaktischen Bereich
könnten ebenfalls einen Master-Studiengang belegen und entsprechende
Studienarbeiten anfertigen. Durch Praktika können in der Zeit
des Master-Studiums gezielt Erfahrungen in den Bereichen gesammelt
werden, die der Studierende für die Verwirklichung seiner
beruflichen Vorstellungen benötigt.
Wo bleibt der PhD?
Gern wird in der Diskussion über Bachelor und Master übersehen,
dass es im angelsächsischen Studiensystem noch einen
dritten Abschluß gibt: den Doctor of Philosophy (PhD). Dieser
dem deutschen Doktortitel weitgehend äquivalente Abschluss
wird in den USA auch im Fach Musik vergeben. In Deutschland
kann man bisher einen Doktortitel in Musikwissenschaft und Musikpädagogik
erwerben, letzteres ist allerdings an den meisten Hochschulen den
examinierten Lehramtsstudenten vorbehalten, diplomierte Instrumentalpädagogen
können allerdings nur an einigen Hochschulen promovieren (zum
Beispiel in Detmold, Stuttgart und Hamburg). Warum nicht auch in
der Musikhochschulausbildung generell den PhD einführen?
PhD-Kandidaten müssten neben dem hervorragenden Bestehen des
Master auch ihre intellektuellen Fähigkeiten nachweisen, zum
Beispiel durch eine herausragende wissenschaftliche Abschlussarbeit.
Sie würden hierzu im Rahmen eines mehrjährigen Programmes
eine Doktorarbeit anfertigen – im Gegensatz zu bisherigen
Diplomarbeiten bieten sich hier insbesondere zeitlich länger
angelegte Studien zu musikalisch-gesellschaftlichen Themenbereichen
an, aber natürlich auch musikwissenschaftliche oder theoretische
Arbeiten. Die PhD-Kandidaten könnten je nach Ausgestaltung
des PhD-Programms, sofern sie zugleich eine Stelle als künstlerischer
Assistent besetzen, wie Doktoranden mit Assistentenstellen in anderen
wissenschaftlichen Studiengängen Lehrverpflichtungen übernehmen,
insbesondere im Nebenfachunterricht des Bachelor-Studiengangs,
und könnten auch in Nebenfachprüfungen Funktionen als
Prüfer, Beisitzer, Schriftführer und so weiter übernehmen.
Folgen dieser Maßnahmen wären
eine generell wissenschaftlich fundiertere und an (über-)prüfbaren
Kriterien ausgerichtete Ausbildung des akademischen Nachwuchses
und damit eine größere Transparenz bei der Besetzung
von Hochschulstellen
ein Rückgang der Lehrbeauftragten-Arbeitsverhältnisse
mit teilweise völlig unangemessener Bezahlung und entwürdigenden
Vertragsbedingungen
eine Entlastung der Professoren von Lehrverpflichtungen und Prüfungsteilnahmen
wahrscheinlich auch Kosteneinsparungen, abhängig von der Vergütung
der PhD-Kandidaten.
Eine konsequente Umsetzung des oben skizzierten
Programmes erfordert natürlich auch eine langfristige Änderung
der Ausrichtung des Lehrkörpers. Da die Bachelor-Studenten
den größten
Anteil der Studierenden ausmachen würden und deren Ausbildung
instrumental- und musikpädagogische Inhalte zum zentralen
Bestandteil hat, müssten Lehrkräfte mit entsprechender
Berufserfahrung auch in diesen Arbeitsfeldern einen großen
Teil der Ausbildung übernehmen.
Inwieweit sich die Lehramtsstudierenden in dieses Konzept einbinden
ließen, kann man gesondert diskutieren. Grundsätzlich
halte ich es für denkbar, Lehramtsstudierenden den gleichen
Fächerkanon wie im Bachelor aufzuerlegen sowie weitere Nebenfächer
wie Gesang, Chor- und Orchesterleitung. Gleichzeitig sollte den
Studierenden für das Erreichen der notwendigen Leistungsnachweise
aber wegen der zusätzlichen Belastung durch ein drittes Einzelunterrichtsfach
und mehr Nebenfächer drei Semester mehr Regelstudienzeit eingeräumt
werden. Inwieweit die Ausgestaltung der Lehramtsstudiengänge
den Hochschulen eigenständig übertragen wird, ist sicherlich
auch von den politischen Bedingungen in den jeweiligen Bundesländern
abhängig und sollte daher landesspezifisch diskutiert werden.
Fazit
Die Umgestaltung der Studienabschlüsse an den deutschen Musikhochschulen
bietet die Chance, die Lehrpläne und die Ausbildung zukünftiger
Musikergenerationen den geänderten Begebenheiten der Musik-
und Bildungslandschaft in Deutschland anzupassen und die kommende
Generation gezielter als bisher auf die berufliche Realität
vorzubereiten. Reformbedarf besteht in erheblichem Ausmaß,
und nur wer die Notwendigkeiten zu Reformen rechtzeitig erkennt,
wird den Prozess mitgestalten können. ?
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