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nmz-archiv
nmz 2007/05 | Seite 15
56. Jahrgang | Mai
Hochschule
Stürmische Festivalzeiten
Programm des Europäischen Musikfests 2007 der Internationalen
Bachakademie Stuttgart
Die Internationale Bachakademie Stuttgart befindet sich derzeit
offenbar in einer umfassenden Metamorphose. Vor wenigen Wochen
erst gab das Haus bekannt, dass Helmuth Rilling zum Ende der Saison
2009/10 seine Arbeit in jüngere Hände legen wird und
dass Intendant Andreas Keller bereits zum 1. April 2008 den Ruhestand,
wenn auch einen bedingten, ansteuert. Wie stürmisch es bis
dahin hinter den Kulissen zugegangen sein mag, darüber kann
man spekulieren, es tut nichts zur Sache.
Jetzt jedenfalls verlässt man schon mal beim Europäischen
Musikfest die gewohnten Bahnen. Hieß es bisher „Bach
und …“, widmet man sich nun dem in vieler Hinsicht
bewegten 20. Jahrhundert. Das Motto für die zwei Festivalwochen
vom 26. August bis 9. September lautet „Stürmisch bewegt!“.
So ist der zweite Satz der fünften Sinfonie Mahlers überschrieben,
die vom Festivalensemble zusammen mit Christoph Poppen erarbeitet
wird. Ebenfalls auf dem Plan des Festivalensembles: Benjamin Brittens „War
Requiem“. Hier übernimmt Helmuth Rilling die Funktion
des Mentors und Dirigenten. Gerade das „War Requiem“ schätzt
er als ein Werk ein, das wegen seines spezifisch zeitgeschichtlichen
Bezugs „immer noch eine Herausforderung für Musiker
und Publikum ist“. Überdies, meint Rilling, sei Britten „in
Deutschland immer noch ein weit unterschätzter Komponist“.
Zwar, so Helmuth Rilling und sein Programmchef Andreas Bomba, hätten
Mahler wie Britten einen gewissen Popularitätsgrad beim Publikum,
aber die Kenntnis über die inneren Zusammenhänge von
Brittens und Mahlers Musik sowie deren Bezüge zum Zeitgeschehen
sei immer noch zu gering. Man fühlt sich an die Worte Helmut
Lachenmanns erinnert, der 1977 über die „Ware Intensität“ wetterte
und Mahler in derselben Gefahr sah, wie einst Schubert als „unsterbliches
Genie verklärt in die Kloaken der gehobenen Unterhaltungsindustrie
entlassen zu werden“. Exakt dieser Gefahr will die Bachakademie
entgegensteuern, unter anderem mit dem „Musikalischen Cafe“.
Dort geben sich Wissenschaftler, Musiker und Literaten die Klinke
in die Hand. Das musikalische Spektrum soll hier in den Vorträgen
und Diskussionen gespiegelt aber auch kontrapunktiert werden, ein
Spektrum, das übrigens diesmal vom stürmisch bewegten
15. Jahrhundert bis eben zu Mahler und Britten reicht. Musiziert
wird von international namhaften Künstlern, allen voran vom
Israel Philharmonic Orchestra, das mit Zubin Mehta am Pult Mahlers
erste, zweite und siebte Sinfonie aufführen wird. Die Bachakademie
feiert damit auch ihre inzwischen dreißigjährige Zusammenarbeit
mit diesem Orchester, bei dem Helmuth Rilling mehr als 100 Mal
am Pult stand. Nicht zuletzt deshalb wird der Eröffnungsvortrag
von Avi Primor gehalten, dem Botschafter a.D. des Staates Israel.
Außerdem auf dem Plan: eine dreiteilige Kammermusikreihe
mit dem Mandelring Quartett. „Stürmisch bewegt“ geht
es auch hier zu, Britten wird in Bezug gesetzt zu Chausson, Schubert,
Haydn und anderen. Das Festival im Festival legt die Bachakademie
mit sechs a-cappella-Konzerten an zwei Tagen auf. Trotzdem bleiben
die Preise bei der Bachakademie moderat. Ein guter Teil des 2,5-Millionen-Etats
wird darauf verwendet, „Schranken abzubauen“, so Keller.
Das ist ein Wort in Zeiten stürmisch bewegter Kultur-Preispolitik!