[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2007/05 | Seite 34
56. Jahrgang | Mai
Rezensionen
Pianistisches Gruppenbild mit Dame
Neue Gesamteinspielungen der 32 Klaviersonaten von Beethoven · Von
Thomas Tietze
Knapp 200 Jahre nach der Veröffentlichung von Beethovens letzter
Klaviersonate op. 111 ist das Interesse an dessen Sonaten ungebrochen.
Pianisten, Musikwissenschaftler und Hörer stellen sich immer
wieder aufs Neue den ungeheuren Herausforderungen der einzelnen
Sonaten wie auch des Gesamtgebäudes der 32 Meisterwerke. Und
ganz offensichtlich ist auch nach Vorliegen der Zyklen eines Schnabel,
Kempff, Arrau, Gulda, Brendel oder Goode noch längst nicht
alles zu diesen Werken gesagt worden. Denn neben einer nicht enden
wollenden Flut von Einzelaufnahmen erleben wir zur Zeit einen Boom
von gleichzeitig he-ranwachsenden Gesamtaufnahmen, die in ihrer
künstlerischen Qualität – das lässt sich schon
jetzt sagen – hinter den alten Referenzeinspielungen nicht
zurückstehen müssen.
Andras Schiff, der junge Brendel-Schüler Paul Lewis, Gerhard
Oppitz und der seit einigen Jahren mit einer späten Karriere überraschende
Michael Korstick legen zur Zeit im Abstand von jeweils einigen
Monaten eine neue CD vor, was nun – nach Veröffentlichung
eines guten Teils der Sonaten – Anlaß und Gelegenheit
gibt, eine erste Zwischenbilanz zu ziehen. Einzig das Korstick-Projekt
bei Oehms Classics hängt derzeit noch bei den Sonaten op.
2 – im Mai allerdings soll es dann weitergehen. Auch der
noch sehr junge Russe Igor Tchetuev hat ein Vol. 1 vorgelegt. Und
dann noch eine Entdeckung: Die russische Pianistin Maria Grinberg,
deren Gesamteinspielung schon jetzt zu den diskographischen Highlights
des Jahres gehören dürfte. Übrigens scheinen auch
die Kanadierin Angela Hewitt sowie die Münchnerin Mari Kodama
eine Aufnahme des Zyklus zu planen. Last but not least muss die
spannende und wohl erste wirklich wegweisende Fortepiano-Gesamtaufnahme
des Niederländers Ronald Brautigam beachtet werden, die hier
aus Platzgründen aber ebenfalls lediglich erwähnt sei.
Wie also nähern sich diese Damen und Herren dem „Neuen
Testament“ der Klavierliteratur? Eines kann zunächst
klar festgestellt werden: Das pianistische und musikalische Niveau
ist bei allen erwartungsgemäß hoch, ansonsten aber geht
es kaum unterschiedlicher. Und das macht den Vergleich denn auch
wirklich hoch spannend, zumal die Aufnahmen von Andras Schiff und
Gerhard Oppitz ungefähr im gleichen Abstand und mit den gleichen
Sonaten erschienen sind. Der direkte Vergleich zeigt allerdings,
dass zwischen beiden Ansätzen doch musikalische Welten liegen.
Nehmen wir einmal die sogenannte „kleine“ c-Moll-Sonate
op. 10 Nr. 1. Oppitz geht an dieses deutlich unterschätzte
Werk sehr frisch und jugendlich heran, lässt den Hörer
allein schon durch sein extremes Tempo und die auch durch die Aufnahmetechnik
unterstützte ausgeprägte Dynamik gerade in den Ecksätzen
ein wenig von dem Schock verspüren, den die Zuhörer anno
1791 erlebt haben mussten – und der wohl auch vom Komponisten
beabsichtigt war. Sein Kollege Schiff hingegen nimmt weniger die
Tempoangabe ernst, als vielmehr die zahllosen Vortragszeichen und
die Mikrostruktur dieser Sonate. Diese lässt er uns denn auch
hören, wie es noch kein anderer, selbst der im Umgang mit
dem Notentext äußerst penible Claudio Arrau nicht, getan
hat. Da werden plötzlich Nebenstimmen und Bassverläufe,
Akzente und Schattierungen hörbar, die man so noch nie wahrnehmen
konnte und die dem Zuhörer durchaus zu neuen Einsichten verhelfen.
Es stellt sich aber grundsätzlich die Frage, ob ein solch
perfektes, absolut makelloses, oft – gerade in den langsamen
Sätzen wird das schmerzlich spürbar – leider auch
zu distanziertes Klavierspiel wirklich den beethovenschen Intentionen
gerecht wird. Bei manchen der frühen Sonaten ist dieser Ansatz
sicher noch vertretbar (in der F-Dur Sonate op. 10 Nr. 2 sogar überzeugend),
generell aber wünscht man sich doch ein wenig mehr Beethovens
Atem und ein gewisses Zupacken. Aber: Man hört diese (Live-)
Aufnahmen mit großer Spannung, voller Bewunderung vor einem überragenden
Klavierspiel – und lernt die Sonaten, auch mit Hilfe eines überragenden
Booklet-Textes inklusive eines höchst lesenswerten Gesprächs
zwischen Andras Schiff und Martin Meyer, letztlich doch von einer
bisher unbekannten Seite kennen. In dieser Form als Beethoven für
Fortgeschrittene sehr zu empfehlen.
Ganz anders der Ansatz des Kempff-Schülers Gerhard Oppitz.
Gerade für jemanden, der mit den Sonaten nicht oder kaum vertraut
ist, dürfte seine doch eher traditionelle Sichtweise die richtige
sein. Oppitz spielt mit einer – bei Schiff leider kaum zu
spürenden – großen Lebendigkeit, kraftvoll, erzmusikantisch
und mit großem Bogen. Alles ist im besten Sinne
wunderbar richtig, denn wir erleben ein zum Kern der Sache vorstoßendes
Klavierspiel. Den Eingangssatz der großen Sonate op. 7 etwa
spielt er mit großem Zug und Impetus, die Musik entwickelt
sich großräumig, strömt im breiten Fluss dahin.
So muss es sein. Der dritte und der vierte Satz sind hier, wie
auch manche andere Sätze der frühen Sonaten, vielleicht
etwas zu erdenschwer geraten. Kollege Schiff wiederum nimmt diese
Sätze – was ihnen hier gut bekommt – mit ungleich
größerer Leichtigkeit und Durchsichtigkeit. Besonders überzeugend
gelungen aber sind dann die Sonaten ab op. 26. Man höre nur
einmal das Finale des op. 28, das nicht oft so schwebend im Klang
ausmusiziert wird. Oder den ersten Satz des op. 31 Nr. 1, dessen
stürmischer Impetus den Satz neu erfahren lässt. Auch
das Scherzo etwa aus op. 31 Nr. 3 ist so präzise gespielt
selten zu hören, der ungeheure Witz des Stückes kommt
auf diese Weise jedenfalls mit größter Klarheit heraus.
Das Oppitz-Projekt wird also noch sehr spannend werden.
Eine gewisse Mittelstellung nimmt hier Paul Lewis ein. Sein perfekt
ausbalanciertes Spiel erinnert sehr an das Spiel seines Mentors
Brendel, er nimmt überwiegend gemäßigte Tempi,
gibt den Emotionen einen gebührenden, aber stets im klassischen
Rahmen bleibenden Raum und vermag es schließlich, die Sonaten
mit einer souveränen Überlegenheit zu gestalten, wie
es bei einem Pianisten seines Alters kaum zu erwarten ist. Bei
ihm hat man – nur bei den großen Alten war das im Grunde
der Fall – nach dem Hören der Sonate das Gefühl,
dass das Werk als Ganzes auf einer anderen Ebene noch lange weiter
wirkt. Das muss man erst mal können! Beispielhaft dafür
ist etwa die oft viel zu sehr als Virtuosenstück mißbrauchte
Waldsteinsonate, die in Wirklichkeit ja eine Sonate der pianissimo-Superlative
ist. Wie Lewis den Hörer hier trotz (oder gerade wegen?) sehr
ruhiger Tempi und durch sein – da wiederum an Brendel erinnerndes – wirklich
sprechendes Spiel dieses Werk und gerade den kurzen Mittelsatz
neu entdecken lässt, ist ein gestalterisches und klangliches
Wunder. Enttäuschend allerdings die berüchtigte Fuge
der Hammerklaviersonate, die einfach zu ruhig und unaufgeregt klingt
und die ansonsten beeindruckende Gesamtdarstellung des Riesenwerkes
damit letztlich abwertet. Denn auch bei dem von Lewis hier angeschlagenen
recht mäßigen Tempo sollte der „Strom kochender
Lava“ (Jürgen Uhde) durchaus hörbar sein, Gilels
(vor allem in seiner russischen Aufnahme) hat das beeindruckend
vorgemacht. Trotzdem: Mit diesen Aufnahmen hat sich Lewis schon
jetzt in den Olymp der Beethoven-Interpreten gespielt.
Der erst in den letzten Jahren bekannt gewordene Michael Korstick
wiederum ist ein Pianist der Extreme und damit in gewisser Weise
Antipode zu Andras Schiff. Auch wenn bislang nur die Trias des
op. 2 in der Neuaufnahme vorliegt, kann man schon jetzt sagen,
dass sein glasklares, brillantes und kraftvolles Klavierspiel bei
Beethoven Maßstäbe setzen wird. Korsticks enormer Drive,
seine Präzision, gleichzeitig aber auch seine Versenkungskraft
und Intensität in den langsamen Sätzen sind bewundernswert.
Korstick verbindet damit vielleicht die Vorzüge eines Gulda
mit denen eines Arrau oder Barenboim. Allerdings muss man die weiteren
Folgen abwarten, in zwei älteren Ars-Musici-Aufnahmen einiger
Sonaten nämlich wirken sich die extremen Tempi nicht immer
positiv auf das Geschehen aus – die Hammerklavierfuge etwa
wirkt, so widersprüchlich es klingt, durch das allzu perfekte
Spiel auch in rasendem Tempo doch sehr glatt und damit fast ein
wenig objektivierend-harmlos. Hier ist ebenfalls von „kochender
Lava“ kaum etwas zu spüren. Korstick ist einem Gulda,
der ebenfalls die frühen Sonaten überzeugender meisterte
als die späteren, vielleicht auch hier nahe. Aber: Es folgen
noch 29 Sonaten.
Im Vergleich mit diesen pianistischen Großtaten hat es der
junge – mit 26 Jahren vielleicht noch zu junge – Igor
Tchetuev merklich schwer. Sein Beethoven (hier op. 10 Nr. 3, die
Appassionata und die Les-Adieux-Sonate) bleibt bei aller pianistischen
Perfektion und auch musikalischen „Richtigkeit“ noch
zu blaß, zu unpersönlich. Es passiert einfach zu wenig.
Dafür aber hören wir den russisch-romantischen Zugriff,
einen wunderbar vollen Klavierton, unterstützt durch eine
meisterhafte Aufnahmetechnik. Die gewisse Sterilität in der
Aussage kann damit aber nicht aufgewogen werden. Trotzdem, auch
dieser Ansatz findet im Kanon der Gesamtaufnahmen durchaus seinen
Platz – und Tchetuev wird im Laufe der Aufnahmen sicher noch
an Persönlichkeit dazugewinnen. Man muss auch dieses Projekt
also weiter verfolgen.
Warum eigentlich gibt es von weiblichen Pianisten bislang nur
ganz wenige Gesamtaufnahmen der Sonaten? Außer Annie Fischer und
der dänischen Pianistin Anne Oland haben sich in der Vergangenheit
offensichtlich noch keine Pianistinnen an eine Aufnahme dieses
Gesamtzyklus´ gewagt. Außer Maria Grinberg. Vor vierzig
Jahren hat diese hierzulande völlig unbekannte russische Pianistin
den Zyklus komplett aufgenommen, der Veröffentlichung hierzulande
harren zur Zeit nur noch die späten Sonaten op. 101 bis 111.
Das nun auch auf CD (Melodiya/Codaex) zugängliche Ergebnis
ist schlichtweg überwältigend. Es wirkt ein wenig wie
eine Synthese aller Vorzüge der eben genannten Aufnahmen.
Grinbergs Spiel ist zugleich äußerst kraftvoll, (der
Ton hat Edelmetall im Kern, wie es letztlich doch nur die Russen
zustande bringen), poetisch, durchdacht, ausgewogen, detailgetreuund
verfügt zudem über eine gestalterische Reife, die sich
nur nach langer Beschäftigung mit diesen Werken erreichen
lässt. Wie Maria Grinberg, hier als Antipodin zu Paul Lewis,
etwa durch die Waldsteinsonate stürmt, ist so bislang nicht
zu hören gewesen. Sie nimmt, besonders im letzten Satz, extrem
zügige Tempi, lässt den Satz aber trotzdem nicht einfach
unsensibel vorbeirasen, sondern bleibt – das ist große
Kunst – stets im klassischen Ebenmaß. Das alles ist
großes Klavierspiel, auch wenn natürlich nicht alle
Sonaten in gleichem Maße gelungen sind. Aber bei wem ist
das schon der Fall? Maria Grinberg zeigt jedenfalls, dass der Beethovensche
Sonatenkosmos auch als Gesamtwerk keine Domäne männlichen
Klavierspiels ist.