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nmz-archiv
nmz 2007/05 | Seite 28
56. Jahrgang | Mai
DTKV Bayern
Fülle von Ideen, Visionen und Begeisterung
Zum Tode von Professor Dr. Günther Weiß am 12. März
2007
Der Landesverband Bayerischer Tonkünstler trauert um Professor
Dr. Günther Weiß, der über Jahre die Arbeit des
Landesverbandes mitgestaltet hat und ihr eng verbunden war. Günther
Weiß ist am 12. März 2007 in seinem Wohnort Attenham
bei München nach längerer Krankheit verstorben.
Günther Weiß wurde am 24. April 1933 in Coburg geboren,
eine Stadt, die stammesmäßig Oberfranken zugehört,
jedoch erst 1920 durch Volksentscheid zum Freistaat Bayern kam.
Den Coburgern wird nachgesagt, dass sie trotz ihres Votums für
Bayern eine besondere Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit
bewahrt haben. Eigenständig und eigenwillig war dann auch
die Bahn, die der gebürtige Coburger Günther Weiß beschritt.
Nach dem Abitur studierte er an der Musikhochschule in München
Schulmusik, schloss musikwissenschaftliche Studien an den Universitäten
München, Erlangen und Chicago ab, promovierte in Erlangen
zum Dr. phil. und kehrte dann nach Bayreuth zurück. Er baute
dort an der neu errichteten Pädagogischen Hochschule das erste
Lehrerbildungsseminar auf. Seine Fachkompetenz als Musikpädagoge
und Musikwissenschaftler wie auch sein Geschick im Umgang mit Lehrern
und Studenten brachten ihm bald einen Ruf auf eine a.o. Professur
an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg ein. Bayern lässt
seinen qualifizierten künstlerischen und wissenschaftlichen
Nachwuchs gern außerhalb des Freistaates Erfahrungen sammeln,
holt ihn dann aber ebenso gern und zielstrebig wieder zurück.
So erteilte der Bayerische Kultusminister bereits vier Jahre nach Übernahme
der Freiburger Professur Herrn Professor Weiß einen Ruf auf
einen Lehrstuhl für Schulmusik an der Musikhochschule München.
Hier hat Günther Weiß eine Fülle von Ideen inhaltlicher
und organisatorischer Art entwickelt und die Schulmusikausbildung
in Bayern und darüber hinaus über Jahrzehnte maßgeblich
mitgestaltet.
Neben seiner Tätigkeit als Hochschullehrer,
Organisator und als örtlicher Prüfungsleiter für
das Lehramt an Gymnasien widmete sich Professor Weiß von
Anfang an wissenschaftlichen Fragestellungen, die weit über
den engeren Kreis der Schulmusik und der Didaktik hinaus in Bereiche
der historischen Musikwissenschaft reichten. Als Vizepräsident
der Hochschule für Musik in den Jahren 1978–1986 setzte
er sich für den Ausbau der Musikwissenschaften an der Münchner
Hochschule und in engem Zusammenhang damit für eine Aufwertung
der Ausbildung an den Musikhochschulen und deren Gleichwertigkeit
mit den wissenschaftlichen Hochschulen und Universitäten in
der Bundesrepublik Deutschland ein. Dabei handelte es sich für
ihn keinesfalls nur um eine abstrakte Forderung: Er wirkte vielmehr
ganz konkret an dieser Zielsetzung mit, indem er an der Münchner
Musikhochschule gemeinsam mit anderen renommierten Wissenschaftlern
eine musikwissenschaftliche Schriftenreihe ins Leben rief, die
bald in Fachkreisen und weit darüber hinaus Zustimmung und
Anerkennung fand. In dieser Reihe wurden neben fachwissenschaftlichen
Aufsätzen Dokumentationen zu musikwissenschaftlichen und musikpraktischen
Symposien herausgegeben; außerdem wurde Studenten die Möglichkeit
eröffnet, herausragende Staatsexamen- und Diplomarbeiten zu
veröffentlichen. Eine Schriftenreihe, die Vorbildcharakter
hatte und dazu beitrug, Ansehen und Status der Musikhochschulen
im deutschsprachigen Raum aufzuwerten.
Günther Weiß hat
neben der Klein- und Detailarbeit, die einem Wissenschaftler und
Lehrer nicht erspart bleibt, primär große Konzepte und
Visionen entwickelt. Hatte eine Vision von ihm Besitz ergriffen,
so verfolgte er sie mit Beharrlichkeit und einem Enthusiasmus,
der ihn oftmals gegen alle Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führte.
Von einer solchen Vision, dem dornenvollen Weg und schließlich
dem erfolgreichen Abschluss sei hier kurz berichtet. Eines Tages
erzählte mir Professor Weiß von einem Deutsch-Amerikaner,
Mr. Moldenhauer, der in seinem Wohnort Spokane die bedeutendste
Privatsammlung von Autographen Gustav Mahlers und der Komponisten
der zweiten Wiener Schule (A. Schönberg, A. Berg, A. von Webern)
zusammengetragen habe. Dieser Sammler – hoch betagt – sei
verkaufsbereit. Der Freistaat Bayern und die Harvard University
sollten im Zusammenwirken mit einer Weltfirma die-
se Sammlung aufkaufen. Im Auftrage der Bayerischen Staatsbibliothek
sichtete Professor Weiß bei mehreren USA Aufenthalten das
Archiv; seine Begeisterung wurde bei Durchsicht der Autographen
immer größer. Dann begann der schwierige, Jahre dauernde
Weg der Verhandlungen mit dem Sammler auf der einen, dem Freistaat
Bayern auf der anderen Seite; diese führten schließlich – als
kaum jemand mehr an den Erfolg glaubte – zum Erwerb eines
wesentlichen Teils der Sammlung, insbesondere bedeutender Mahlerautogra-phen
durch die Bayerische Staatsbibliothek. Wer dies miterlebt hat,
der weiß, dass es insbesondere
dem unerschütterlichen Optimismus und Enthusiasmus eines Günther
Weiß zu verdanken ist, dass die Angelegenheit trotz zeitweiliger
völliger Aussichtslosigkeit zu einem erfolgreichen Ende geführt
wurden. Die wissenschaftliche Auswertung dieses Archivs – nach
dem Namen des Sammlers als Moldenhauer-Archiv bezeichnet – war
schließlich Grundlage für eine Vereinbarung über
die Zusammenarbeit der Münchner Musikhochschule mit einer
der renommiertesten Universitäten der USA, der Harvard University,
auch dieses eine große Vision, deren Realisierung Günther
Weiß in seiner Zeit als Vizepräsident an der Münchner
Musikhochschule in die Wege leiten und später vollenden sollte.
Im Aufspüren von Quellen hat Günther Weiß stets
ein ganz besonderes Geschick gezeigt. Das begann mit dem Marteau-Archiv,
in dem er Aufsehen erregende Funde machte. Es setzte sich fort
im Erwerb der erwähnten Privatsammlung aus Spokane und gipfelte
in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Auffinden einer
Skizze der Metamorphosen von Richard Strauss, die dieser unmittelbar
nach dem Krieg seinem Arzt in der Schweiz als Ausgleich für
ein Honorar übergab. Dieses Autograph konnte durch Vermittlung
von Günther Weiß schließlich von der Bayerischen
Staatsbibliothek erworben werden. Zahlreiche Veröffentlichungen
von Günther Weiß sind unmittelbar Frucht der von ihm
aufgespürten Quellen. Sie rücken manches Klischee, manche
falsche Annahme der Musikwelt zurecht, sei es, was das Verhältnis
Henri Marteaus zu Max Reger angeht, sei es die Widmung eines Violinkonzerts
von Bela Bartok oder das Verhältnis von Alma zu Gustav Mahler,
zu dem Weiß nach Einsicht in Unterlagen des genannten Privatsammlers
wichtige neue Erkenntnisse vortrug. Großes Aufsehen erregte
dann die Ausgabe von Briefen von Gustav Mahler an Alma unter dem
Titel „Ein Glück, ohne Ruh“, die Günther
Weiß zusammen mit dem Mahlerforscher de La Grange erarbeitet
und herausgegeben hat. Auf große Resonanz sind auch seine
Biographien über den Arzt und Brahmsfreund Max Billroth und
den Geiger Henri Marteau gestoßen, in denen er zahlreiche
neue Quellen, die er in mühsamer Arbeit eruiert hatte, verwertete.
Günther Weiß war neben seiner Tätigkeit als Pädagoge,
Wissenschaftler und Berater ein viel gefragter Redner und Referent.
Er war Mitglied des Kuratoriums des Internationalen Musikpreises
der Frankfurter Musikmesse, den er mit ins Leben gerufen hatte
und nicht zuletzt künstlerischer Leiter der Musikbegegnungsstätte „Haus
Marteau“. Dass diese heute unter den Musikakademien und den
musikalischen Fortbildungsstätten einen einzigartigen Rang
einnimmt, das verdankt sie wesentlich ihrem künstlerischen
Leiter. Dieser brachte seine im nationalen und internationalen
Raum erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen ein und setzte seine
Kontakte für den Aufbau eines Kurs- und Fortbildungssystems
ein, das dem „Haus Marteau“ sein ganz besonderes Profil
gibt: Neben Fortbildungskursen für Schüler und Studenten
der bayerischen Ausbildungsstätten, für Schulmusiker
und Laienmusiker aus der Region stellt es in Fortführung der
Tradition des großen Geigers und Pädagogen Henri Marteau
ein Angebot an hoch qualifizierten Meisterkursen bereit. Dieses
zieht Dozenten und Nachwuchskünstler aus aller Welt in das
oberfränkische Lichtenberg und macht dieses – wie zur
Zeit Marteaus – wieder zu einem lebendigen, internationalen
musikalischen Begegnungszentrum. Neben den vielfältigen von
ihm wahrgenommenen Aufgaben stellte Günther Weiß nach
der Wende seine Fachkompetenz und seine reichen Erfahrungen im
Rahmen einer Struktur- und Evaluierungskomission der Musikhochschule
Weimar bereit und wirkte so am Aufbau einer neuen Schulmusikabteilung
mit. Wegen des zeitweiligen Mangels an qualifizierten Schulmusikdozenten
hielt er außerdem Vorlesungen an der Weimarer Musikhochschule.
Im Landesverband Bayerischer Tonkünstler leitete Prof. Weiß den
Pädagogischen Ausschuss und wirkte beim Ausbau und der Gestaltung
der Vorbereitungs-,
Fortbildungs- und Meisterkursen mit. Prof. Weiß war darüber
hinaus maßgebend an Konzeption und Realisierung der von Prof.
Dr. Suder im Auftrag des Landesverbandes herausgegebenen Monographienreihe „Komponisten
in Bayern“ beteiligt. Zahlreiche darin abgedruckte Interviews
mit Komponisten, deren Angehörigen und anderen Persönlichkeiten
hat Prof. Weiß mit Geschick und Einfühlungsvermögen
geführt.
Das bisher in Umrissen gezeichnete Bild des Musikpädagogen,
Musikwissenschaftlers und in vielfältigen sonstigen Bereichen
Verantwortung Tragenden wäre unvollständig, wollte man
den Musiker Günther Weiß vergessen. Sein Instrument
war die Geige, hervorgetan hat er sich vor allem als Dirigent von
Orchestern. Bereits während seiner Tätigkeit an der Pädagogischen
Hochschule Bayreuth leitete er das Orchester der Internationalen
Jugendfestspiele. In Oberfranken hat er ein eigenes Jugendorchester
aufgebaut, das jungen Nachwuchsinstrumentalisten Literaturkenntnisse
und Orchesterpraxis vermittelte und mit dem er an zahlreichen Orten
der Region erfolgreich auftrat. Nahe seinem Heimatort leitete er über
Jahre das Philharmonische Orchester und den Chor Isartal, mit denen
er zahlreiche Werke der großen Chor und Orchesterliteratur
aufführte und auf CD aufnahm. Musikpädagogik, Musikwissenschaft
und Musizieren bildeten so eine Einheit. Musikwissenschaft und
Musikpädagogik standen nicht im luftleeren Raum, das Musizieren
erfolgte vor dem Hintergrund einer umfassenden Kenntnis der Musik,
ihrer Voraussetzungen und in vielen Jahren dienstlicher Zusammenarbeit,
die mich als Referatsleiter Musik im Bayerischen Wissenschaftsministerium
mit Günther Weiß verband, hat sich ein persönlicher
Kontakt, eine freundschaftliche Beziehung herausgebildet, die weit über
das Dienstliche hinausreichte. Günther Weiß war ein
Mensch, der denjenigen, die sich ihm öffneten, mit überwältigenden
Vertrauen und herzlicher Freundschaft begegnete. Mit der Fülle
seiner Ideen, seiner Visionen und mit seiner Begeisterung riss
er seinen Gesprächspartner mit sich. Im vertrauten Gespräche
habe ich manches über Almas Verhältnis zu Gustav Mahler, über
Marteaus Beziehung zu Max Reger, über Richard Strauss, Hans
Pfitzner und andere erfahren, was dann später in wissenschaftlichen
Veröffentlichungen der interessierten Musikwelt zugänglich
wurde. Diese Begegnungen brachten stets eine große geistige
und persönliche Bereicherung. So hinterlässt der Tod
von Günther Weiß nicht nur der Fachwelt, sondern auch
bei seinen Freunden und Bekannten eine schmerzliche Lücke.
Wir werden den Professor, Fachmann und Verantwortlichen auf vielen
Gebieten der Musik, insbesondere auch den Menschen Günther
Weiß sehr vermissen.