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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 39
56. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Bayreuth als Sehnsuchts- und Wahnvorstellung
Siegfried Matthus’ Nietzsche-Oper „Cosima“ in
Braunschweig uraufgeführt
Opernfragmente von Friedrich Nietzsche über Cosima Wagner,
rekonstruiert und durch eine Rahmenhandlung ergänzt von Siegfried
Matthus: so heißt der Untertitel eines neuen musiktheatralischen
Versuchs, der vom Staatstheater Braunschweig uraufgeführt
worden und kurz darauf in Gera nachgespielt worden ist. Und Matthus
weiß uns dazu eine aufregende Geschichte zu berichten. Bei
Restaurierungsarbeiten im Schlossvon Rheinsberg, dem Sitz seiner
Opern-werkstatt, habe man unter den Dielen des Arbeitszimmers von
Kronprinz Friedrich eine Kiste mit sensationellem Fund entdeckt,
im Kriege aus dem Bayreuther Wahnfried-Archiv ausgelagert und später
vergessen – unvollendete Skizzen des komponierenden Friedrich
Nietzsche über die von ihm angebetete Cosima Wagner, ergänzt
um deren Tagebuchvermerke aus dem späten 19. Jahrhundert.
Cosima, so gehe daraus hervor, habe sich mit allen Winkelzügen
in den Besitz dieser Nietzsche-Oper gesetzt, die niemals an die Öffentlichkeit
kommen dürfe, da sie mit den Szenen aus Cosimas Leben die
Herrin von Bayreuth kompromittiert hätte.
Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden – so
gut erfunden, dass ein Kritiker die Fabulierlust von Matthus für
bare Münze nahm. In Wirklichkeit ist sie natürlich nur
ein dramaturgischer Trick, der es gestattet, das Schicksal Cosimas
zwischen Hans von Bülow und Richard Wagner, Ludwig II. und
Bayreuther Festspielherrschaft nicht plan nachzubilden, sondern
sie aus Sehnsuchts- und Wahnvorstellungen Nietzsches als Vexierbild
nachzuschaffen. Nicht Cosima, wie der Titel verheißt, sondern
Nietzsche ist die tragende und tragische Gestalt der Oper, und
so erhält er in Braunschweig auch das erste Wort. Auf Vorschlag
von Jonas Alber, dem dirigierenden Generalmusikdirektor, wird der
Abend mit dem szenisch ausgebauten Ariadne-Dithyrambos von Matthus
eröffnet, ein (textlich originaler) Monolog des kranken Philosophen,
der Dionysos zu sein und in Ariadne die angebetete Cosima zu finden
glaubt, von Matthus in ein ausdrucksgesättigtes Psychogramm
geführt, in dem neben dem Bariton ein solistisches Cello bestimmend
wird. Die Bühne in Braunschweig teilt sich. Zur Linken gleißt
die Krankenstation Nietzsches, der sich mit seinen Wahnwelten,
seinem zweideutigen Arzt und der rastlosen, schwarzgewandeten Cosima
(imposant: Karan Armstrong) herumzuschlagen hat. Zur Rechten wird
der Raum zum Bayreuther Festspielhaus, auf dessen Bühne die
Szenen der vorgeblichen Opern-Fragmente Nietzsches (mit Susanna
Pütters als junger Cosima) aufgeführt werden. Mit Nietzsches
Kompositionen, die wir in ihrem armseligen Epigonentum nach der
Leipziger Schule Mendelssohns und Schumanns ja kennen, hat das
nichts zu tun, wohl aber mit Richard Wagner, der quer durch alle
seine Werke immer wieder zitiert wird, wohl aber auch mit der „Carmen“,
der vom Philosophen hochgebauten musikalischen Gegenwelt. Matthus
gleitet von den Zitaten und Halbzitaten mit stupender Geschicklichkeit
in seine ureigene musikalische Welt weiter, die geprägt ist
von theatralisch-dramatischer Direktheit, orchestralem Farbenreichtum
und rhythmischer Betontheit. Dass die Ambivalenz der Wahnszenen
Nietzsches aus allem Dingfesten weggerückt wird in eine surreale Übersteigerung
durch die Inszenierung Kerstin Maria Pöhlers, tut Werk und
Aufführung gut. Konsequent läuft sie auf den Dionysos-Tanz
des kotbeschmierten Nietzsche mit dem Lendentuch des Gekreuzigten
zu, von den Parsifal-Glocken musikalisch vorangetrieben. Seit er
1979 mit dem „Jakob Lenz“ von Wolfgang Rihm in Hamburg
debutierte, hat Richard Salter zahlreiche zerrissene Seelen-Porträts
neuer Opernwerke aus der Taufe gehoben: ein Stück Geschichte
des modernen Musiktheaters in den letzten Jahrzehnten. In diese
respektgebietende Genealogie fügt sich dieser Nietzsche nachdrücklich
ein.