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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 41
56. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Diese Sonne brennnt der Sonne entgegen
Premierenproduktion „Fonds Experimentelles Musiktheater“ in
Gelsenkirchen
Beklemmend das Ende. Vierzehn Gesangssolisten, die sich aus dem
Bühnenhintergrund lösen, nach vorn treten und eine Nähe
herstellen wie sie dem Kleinen Haus am MIR, dem Gelsenkirchener
Musiktheater im Revier per architectonem eingeschrieben ist. Unprätentiös,
unmittelbar, unverstellt. So sollte es zugehen an einem der spektakulärsten
Theaterbauten der Nachkriegszeit, konzipiert und realisiert vor
beinahe einem halben Jahrhundert von Werner Ruhnau. Anlässlich
dessen 80. Geburtstages ist im MIR jetzt eine Ausstellung zum Lebenswerk
des Architekten zu sehen. Vergangenheit, die beerbt sein will.
Etwa in dem Sinn, dass die Akteure an der Rampe auf die Knie gehen,
um ein verzweifeltes Trommeln mit den Fäusten zu entfesseln,
den Theaterboden Dröhnen machen. Es ist dieses Schlussbild,
mit dem der junge Regisseur Michael von zur Mühlen seine spielfreudig-verspielten
Tändeleien unterbricht und an die Intimität wie Intensität
einer Experimentierbühne erinnert wie sie Carla Henius unter
der hellwachen Intendanz Claus Leiningers in den 70er-Jahren etabliert
hatte.
An solches künstlerische, nicht von ungefähr auch politische
Brennen jener Jahre versucht die erste Produktion des von NRW KULTURsekretariat
und Kunststiftung NRW ausgelobten „Fonds Experimentelles
Musiktheater“ anzuschließen. „Der Sonne entgegen“ nennt
die italienische Komponistin Lucia Ronchetti ihr sich dramatisch
verstehendes Musiktheater auf die Schockwellen der Globalisierung:
Armutsflucht, Tourismustristesse, Umweltkatastrophen. „Diese
Sonne brennt der Sonne entgegen“, heißt es im desillusionierten
Schlussgesang. Keine Frage: „Eine Oper zum Klimawandel, auch
zum Utopieverlust im dritten Millenium. Der Sonnenkollektor – Sonnensegel“,
umschreibt es poetisch Textdichterin Steffi Hensel –, bedeutet
bekanntlich, dass die „Sehnsucht nach dem Paradies“ nicht
ist, sondern war. Es ist die enttäuschte Hoffnung, der ernüchterte
Realismus, aus dem diese erste Produktion des „Fonds Experimentelles
Musiktheater“ ihre Triebkraft bezieht.
Nicht, dass sich Christian Esch als Apostel eines Theaters verstehen
würde, das alles anders, alles neu zu machen beanspruchte.
Der NRW KULTURsekretariats-Geschäftsführer will mit dem
2005 eingerichteten Fonds anschließen, will aufgreifen, was
schon einmal war, was (nicht nur am MIR) abgebrochen, außer
Sicht- und Reichweite geraten ist. Zugleich sei der Lethargie abzuhelfen,
in die das Vorgängerprojekt abgedriftet ist. Anders als der „Fonds
Neues Musiktheater“, der von den Häusern selbst beansprucht
wird (oder eben auch nicht), sind nun die wahren Theaterproduzenten
aufgerufen: Komponist, Librettist, Regisseur.
Eine prominent besetzte Jury sondiert die Eingänge, versteht
sich als Transmissionsriemen einer Erneuerung des Theaters aus
der Theaterutopie. Intendiert ist deshalb auch nicht Nachwuchsförderung
im eigentlichen Sinn. Bewerbungen um die 80.000 Euro-Zuschüsse
je Produktion unterliegen keiner Altersbeschränkung. Was zählt,
ist der in einem überzeugenden Entwurf sich manifestierende
Wille eines Teams der Willigen. Wie in den goldenen Theaterjahren
der 20er-Jahre oder auch des ausgehenden 18. Jahrhunderts, setzt
der „Fonds Experimentelles Musiktheater“ auf die Kraft
künstlerischer Arbeitsgemeinschaften: Mit den Initiativen
aus Textdichter, Tonsetzer, Theaterregisseur gegen die institutionalisierte
Risikoscheu im real existierenden Stadttheater und den an Auslastungsziffern
klebenden Intendanten. Überhaupt sei es die Idee der Zeitoper,
deren Potential Christian Esch noch ebensowenig ausgeschöpft
sieht wie ihm ein neues Selbstverständnis des Komponisten
angezeigt scheint. Ferner stünde an, ein anderes Verhältnis
zur Sprache zu finden. Jenseits von Textverständlichkeit,
von Funktionalität zur Musik wie in der klassischen Literaturoper,
gehe es auch hier um Emanzipation von mehr oder weniger schlechten
Gewohnheiten.
Daran gemessen, hinterließ die Premierenproduktion einen
eher erratischen Eindruck. So sehr die Komponistin beeindruckend
zwischen den Stilen, Zeiten und Genres jonglierte, Liveelektronik-
und Bläser-Klangteppiche zu Madrigal-, Verdi- und Sciarrino-
Adaptionen mischte, so sehr fragte man nach der eigenen Handschrift
darin. Mäandernd auch das von Steffi Hensel kreierte Textgebirge,
dessen über weite Strecken ergoogelte Entstehungsgeschichte
sich die Regie nicht abzutragen getraute. An den glänzend
disponierten, auch schauspielerisch überzeugenden vierzehn
Gesangssolisten gebrach es dieser Inszenierung jedenfalls ebensowenig
wie an den unter Dirigent Askan Geisler einfühlsam und präzise
mitmusizierenden Blechbläsern des Landesensembles Musikfabrik.
Neues vom „Fonds Experimentelles Musiktheater“ ist
versprochen fürs Frühjahr 2008.