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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 38
56. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
In der alten Uhrenstadt schlägt die Zukunft
Ein Festival mit Ambitionen: „Les Amplitudes“ im schweizerischen
La Chaux-de-Fonds
„Es gibt eine Barriere zwischen uns und dem Rest der Welt“,
sagt Yvan Cuche, Mitglied des Leitungskomitees des Festivals „Les
Amplitudes“, „schon die Leute aus Neuchâtel,
eine halbe Stunde entfernt, kommen kaum zu uns herauf“. Die
Bahnreise hat tatsächlich etwas von einer Exkursion ins Niemandsland.
Durch Tunnels und einsame Juratäler geht es unablässig
bergauf, bis man in 1.000 Metern Höhe, kurz vor der französischen
Grenze, unerwartet in die Zivilisation zurückfindet: La Chaux-de-Fonds,
eine Industriestadt mit knapp vierzigtausend Einwohnern.
Die Uhrenmetropole, die ihre Boomzeit im 19. und frühen 20.
Jahrhundert erlebte, ist stolz auf ihre kulturellen und politischen
Traditionen, was sich schon im Stadtbild zeigt. Das Festivalbüro
liegt am Platz der Internationalen Brigaden, in der Stadtmitte
gibt es die Place de la Carmagnole, ein Denkmal für die Revolution
von 1848 und einen Corbusier-Platz. Der weltbekannte Architekt
ist hier geboren und hat seiner Vaterstadt auch zwei Bauwerke geschenkt,
die heute sorgfältig gepflegt werden. Ein guter Humus für
ein Festival mit zeitgenössischer Musik. Es wurde vor vier
Jahren von einer Gruppe von Aktivisten um das hier ansässige
Nouvel Ensemble Contemporain gegründet und vermag ein erstaunlich
zahlreiches Publikum aus allen Alterklassen zu mobilisieren. Die
relativ geringen öffentlichen Subventionen werden ergänzt
durch Lotterie- und Sponsorengelder und viel Idealismus der Verantwortlichen.
Eine wesentliche Stütze findet es in Radio Suisse Romande,
das alle Konzerte aufzeichnet oder live übertragt. Der Sender
schafft damit eine breite überregionale Öffentlichkeit,
außerdem finanziert er die Uraufführungsaufträge.
Ein Gastkonzert mit dem Orchestre de Chambre de Lausanne, einem
Ensemble von hoher Klangkultur, sorgt darüber hinaus für
einen glanzvollen Höhepunkt im Programm.
Das als Biennale konzipierte Festival stellt jedesmal einen international
bekannten Komponisten ins Zentrum und gruppiert darum herum Uraufführungen
schweizerischer Autoren. Der erste Composer-in–Residence
war 2003 Luc Ferrari. Ihm folgten 2005 Georges Aperghis und in
diesem Jahr nun Salvatore Sciarrino. Nicht weniger als neunzehn
Werke und Werkzyklen erklangen von ihm, angefangen von den funkelnden „Notturni“ für
Viola und den halsbrecherischen Violin-Capricci aus den siebziger
Jahren über das musikalische Stillleben „Vanitas“ (1981)
bis zum Massenevent der „Studi per l’intinazione del
mare“ (2000) für über hundert Flötisten und
Saxophonisten und Ensemblewerken neueren Datums wie dem „Quaderno
di Strada“. Wenige Festivals bieten Gelegenheit, Sciarrinos
facettenreiches Werk in einer solchen Breite kennenzulernen. Für
erstklassige Aufführungen sorgte die internationale Solistenschar
mit Sonia Turchetta und Otto Katzameier (Gesang), mit Lukas Fels,
Carolin Widmann, der Bratschistin Anna Spina und dem Flötisten
Mario Caroli. Das Schlusskonzert mit dem Orchestre de Chambre de
Lausanne unter der Leitung von Marco Angius, einem ausgewiesenen
Sciarrino-Kenner, stellte mit „Vento d’ombra“, „Clair
de lune“ und dem geistreich-verspielten „Efebo con
radio“ noch einmal den Klangmagier Sciarrino ins Zentrum.
Die Stücke wurden kontrastiert durch Mozarts Klavierkonzert
d-moll KV 466 und eine Uraufführung von Bettina Skrzypczak.
In ihrem Orchesterstück „Initial“ entwirft die
in der Schweiz lebenden Polin eine zerklüftete, farblich reich
schattierte Klanglandschaft. Geheimnisvoll irisierende Streicherflächen,
die Polarität zwischen schlagzeuggrundiertem Ausbruch und
jähem Absturz in hohle Bassregionen sowie eine unruhige, durch
Mikrointervalle geprägte Harmonik prägen den Charakter
dieser ausdrucksstarken Musik. Solowerke von Victor Cordero, Alfred
Zimmerlin, Daniel Glaus und Vincent Pellet sowie das Ensemblestück „Un
retour de Cythère“ von Jean-Jacques Dünki ergänzten
den Reigen der Schweizer Uraufführungen.
Eine einfallsreiche Programmdramaturgie, geistige Offenheit und
ein entdeckungsfreudiges Publikum bilden das Kapital des Festivals „Les
Amplitudes“, das, wie sein Name sagt, die Stadt hinter den
Juraketten weit zur Welt hin öffnet. Die Peripherie als Schaufenster
der Gegenwart: Vielleicht sind gerade das die Kulturlandschaften
mit Zukunft.