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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 39
56. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Tief im Unbewussten der Gesellschaft forschend
Odysseus und die assoziativen Räume: der Komponist Rolf Riehm
wird siebzig Jahre alt
Wohin gehört eigentlich Rolf Riehm stilistisch? Muss man das überhaupt
fragen? Wohl nicht. Doch unser systematisierungshungriger und lagerversessener
Geist drängt darauf. Die Schubladen stehen weit offen: postmodern
oder komplex, minimal oder reduziert, neotonal, elektronisch oder
zweitmodern. Riehm passt in keine. Heimatlos oder heimatfern wie
Odysseus, dessen Mythos ihn immer wieder faszinierte? Er lässt
sich nicht einordnen (unterordnen?), aber er lässt uns hören:
und zwar was alle angeht. Das ist wohl der bessere Weg.
Zeitzeuge,
politischer Kommentator, vor allem aber Komponist: Rolf
Riehm. Foto: Charlotte Oswald
Zunächst mal kursorisch: Rolf Riehm wurde am 15. Juni 1937
in Saarbrücken geboren. Er studierte zunächst Schulmusik
in Frankfurt/M. und ab 1958 Komposition bei Wolfgang Fortner in
Freiburg. Danach Tätigkeit als Solo-Oboist (unter anderem
mit „Ungebräuchliches“ bei den Internationalen
Ferienkursen Darmstadt 1966). Riehm ist Mitbegründer der Frankfurter
Vereinigung für Musik, die von 1964 bis 1970 existierte.
Nach kurzem Schuldienst war er ab 1968 Dozent an der Rheinischen
Musikschule Köln, wo er bis 1972 auch Mitglied der „Gruppe
8“, einem Zusammenschluss Kölner Komponisten, war. 1968
erhielt er die Auszeichnung „Premio Marzotto per la Musica“ und
ein Stipendium der Villa Massimo, das ihm einen Aufenthalt in Rom
ermöglichte. Von 1974 bis 2000 war Rolf Riehm Professor für
Komposition und Tonsatz an der Musikhochschule Frankfurt/M. Von
1976 bis 1981 Mitglied des legendären „Sogenannten Linksradikalen
Blasorchesters“ Frankfurt. Konzertreisen, Vorträge und
Workshops führten ihn unter anderem nach Schweden, Mittel-
beziehungsweise Südamerika und Japan. 1992 erhielt er den
Kunstpreis des Saarlandes, 2002 den Hindemith-Preis der Stadt Hanau.
Nichts ist abstrakt bei Riehm, zumindest nicht auf erster Ebene
(die kompositorischen Verfahren im Hintergrund freilich tauchen
tief in strukturelle Abwägungen). Gegenstand seiner Musik
ist die Gegenwart, die freilich nicht ohne geschichtlichen Vorbau
gesehen werden kann: ihre Komplexe, ihre Narben, ihre Spielregeln,
ihre politischen und gesellschaftlichen Konnotationen.
Es geht um sichtbare und unsichtbare Gewalt, um die Abnutzungserscheinungen
der Sinne, auch um das gebrochene Liebesversprechen der französischen
Revolution (im Gesangs-Orchesterstück „Les Chants de
la Révolution sont des Chants de l’Amour“).
Riehms Musik ist politisch im besten Sinne: nicht plakativ, nicht
vordergründig, nicht ereignisbezogen, sondern vielmehr tief
im Unbewussten der Gesellschaft forschend. Aus der gleichen Gesellschaft
nimmt er sich auch seine Materialien, auf den ersten Blick möchte
es erscheinen fast ungeprüft. Denn da ist der Kitsch des Schlagers,
da sind billige Samplings, da wehen vernutzte Klänge aus dem
klassischen Repertoire hinein und alles wird immer wieder von konkreten
Geräuschen konterkariert.
Was sich beim Hören auftut ist ein dialektisch gebrochener,
assoziativer Raum (spätestens hier erweist sich, wie genau
bedacht die Materialen zusammengesucht wurden). Schon die sprechenden
Titel Riehms geben das assoziative Feld vor: in der Oper nach Kafka „Das
Schweigen der Sirenen“, in Orchesterkompositionen wie „O
Daddy“, „Schubert Teilelager“, „Die Tränen
des Gletschers“ oder „Die schrecklich-gewaltigen Kinder“,
in Kammer- oder Solowerken wie „’Ich denk viel.’/Mr.
President/pizz/13“, „KlageTrauerSehnsucht“, „Hawking“ oder „Notturno
für die trauerlos Sterbenden“, schließlich im
die Zonen von Angst und Gewalt durchleuchtenden Märchen-Hörstück „Machandelboom“.
Was vor allem freut, ist die Wachheit, mit der Riehm in einer immer
mehr betäubten oder sich der Betäubung überlassenden
Welt die Dinge sieht. Seine Werke sind wie Zooms auf die Wunden
unserer Zeit. „O Daddy“ zum Beispiel geht direkt auf
eine in Italien geführte Debatte über die Familienstruktur
ein (1977 hatte in Rom der 15jährige Marco Caruso seinen Vater
erschossen, um die Familie von diesem als Tyrann empfundenen Vormund
zu befreien). Dann aber weiten sie den Blick und suchen das Gesamte.
Die Stücke sind Zeitzeuge und zugleich politischer Kommentar.
Und sie zehren auch immer von der Rätselhaftigkeit unseres
Daseins (die Oper „Das Schweigen der Sirenen“ breitet,
wie schon Kafkas Text, ein Gewirr von Deutungen und Lösungen
aus, ohne sich letztlich festzulegen). Solche gesellschaftliche
Brisanz und Unversöhnlichkeit zeichnet die Werke von Rolf
Riehm aus. Doch sie sind freilich mehr: nämlich Musik, die
das Hören von Anfang bis Schluss in den Bann schlägt.