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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 37-38
56. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Der große Vorsitzende Mao spricht aus dem Klavier
Babylonisches Stimmen-Gewirr: Die Wittener Tage für neue
Kammermusik befassen sich mit Sprache und Singen
Die Wittener Tage für neue Kammermusik sind neben, nicht nach
den Donaueschinger Musiktagen das wichtigste Avantgarde-Treffen
Deutschlands. Die Ausstrahlung reicht natürlich weit über
die Landesgrenzen hinaus: Weltmusik heißt das Stichwort.
Die Komponisten, die sich hier mit ihren neuesten Werken präsentieren,
kommen aus vielen Ländern. Das Angenehme an den Wittener Tagen
ist einmal ihre Kürze: drei Tage, die andererseits aber so
konzentriert mit Konzerten, Klanginstallationen, Performances und
Gesprächen ausgefüllt sind, dass man das Gefühl
hat, an einer umfassenden Informationsreise durch gegenwärtig
aktuelle Klangwelten teilzunehmen.
Doppel-Flügel
und geteilte Musiker: das Ensemble Modern in Witten mit
Bruno Mantovanis neuem Werk „Si prés, si loin“ für
zwei Klaviere und zwei Ensemblegruppen. Foto: Charlotte
Oswald
Zur Charakteristik der Musiktage in Witten gehört in der Regel
außerdem ihre thematische Konzentration. Der künstlerische
Leiter der Musiktage, Harry Vogt, Musikredakteur beim Westdeutschen
Rundfunk – der WDR fungiert neben der Stadt Witten als Veranstalter –,
besitzt ein feines Gespür für sich abzeichnende Tendenzen
in der aktuellen Musik. Im Augenblick konstatiert man ein wachsendes
Interesse der Komponisten an allem, was im weitesten Sinne mit
Sprache, Sprechen und der Stimme zu tun hat. Sprache ist ja nicht
nur ausformulierte Information, sie entfaltet, indem sie gesprochen
wird, ein facettenreiches Spektrum aus Klängen, Geräuschen,
Tonlagen, aus Silben, Wörtern, Rhythmen, woraus sich dann
autonome „Kompositionen“ herstellen lassen.
Wenn es um die Zusammenführung verschiedener Ausdrucksmittel,
von Musik, Sprache, Körperhaftigkeit und Bildelementen geht,
fällt quasi automatisch der Name des griechisch-französischen
Komponisten Georges Aperghis. Aperghis stand mit Solo- und Duo-Stücken,
einigen seiner brillanten „Récitations“ (fabelhaft
von Salome Kammer vorgetragen) und einer Uraufführung im Mittelpunkt
der Musiktage. „Zeugen“ nennt er sein Spectacle musical
mit Texten von Robert Walser und nachgebauten Handpuppen, die Paul
Klee in den zwanziger Jahren für seinen Sohn Felix fertigte.
In einem kleinen Puppentheater verschiebt ein Spieler/Sprecher
die steifen Puppen schematisch auf der Bühnenrampe, mittels
einer Videokamera haucht er ihnen auf einer darüber montierten
Bildwand „Leben“ ein, während eine „Stimme“ (wieder
Salome Kammer) die Textfiguren Walsers, von denen Walter Benjamin
sagte, dass sie „den Wahnsinn hinter sich“ hätten,
in das Spiel suggestiver Erinnerungen einbringt. Aperghis' Musik,
gesetzt für ein Quintett aus Altsaxophon, Bassklarinette,
Akkordeon, Cimbalon und Klavier, korrespondiert in ihrem Anspielungsreichtum
mit der lockeren szenisch-optischen Struktur. Eine wunderbare Poesie,
hintergründig, rätselvoll, vieldeutig, liegt über
dem Ganzen. Aperghis selbst führte sensibel Regie, Daniel
Lévy zauberte mit Licht, Zsolt Nagy führte die Musiker
präzise durch die Partitur.
Sprache, Klang – übersetzt und verwandelt: Walter Zimmermann
gewinnt aus Aphorismen des argentinischen Dichters Antonio Porchia
eine höchst individuelle Musik für seinen Klavier-Zyklus „Voces
Abandonadas“. Faszinierend, wie der Komponist den Wendungen,
Bedeutungen und Tonlagen der Sentenzen ganz unterschiedliche instrumentale
Gesten und Gebärden gibt, wobei der Gesamtausdruck der Komposition
gleichwohl sehr einheitlich wirkt. Nicht ganz so überzeugend
erscheint daneben Peter Ablingers Zyklus „Voices and Piano“ (1998
bis 2007). Die in den Raum vom Tonband abgestrahlten realen Stimmen,
unter anderen von Ezra Pound, Rolf Dieter Brinkmann, der Astronautin
Valentina Tereschkowa, dem Komponisten Morton Feldman, der Schauspielerin
Hanna Schygulla oder von Mao Tse-Tung werden von Ablinger mit korrespondierender
Klaviermusik konfrontiert: Sprechweise, Akzente, Tonfall, Betonungen
der Sprechvorlagen finden sich in Klanggestalten übersetzt.
Das wirkt manchmal sogar recht witzig und intelligent, aber auf
Dauer auch ein wenig zu schematisch.
Das
neu gegründete Ensemble 2 x 2 spielte in Witten Uraufführungen
von Combier und Usher. Foto: Charlotte Oswald
Anspruchsvoller dagegen wiederum Isabel Mundry in ihrer komplexen
Komposition „gesichtet, gesichelt“ auf einen Text von
Thomas Kling. Eine Sprechstimme (Salome Kammer, unermüdlich
in diesem Jahr) rezitiert Klings Worte, eine Trompete (souverän
Marco Blaauw)„singt“ dazu, während drei aufgeteilte
Chorgruppen zwischen den Ebenen vermitteln: ein hochambitioniertes
Projekt, in Raum und Zeitverlauf Sprachinhalte und Sprachklang
in eine autonome Komposition zu integrieren. Der WDR-Rundfunkchor
unter Rupert Huber leistete Vorzügliches.
„
Stimmen“ können auch rein instrumental erklingen: Eine
neue „Stimmfarbe“ bei den Interpreten brachte das „Ensemble
2 x 2“ ein. Zwei Pianisten (Heather O'Donnell, Benjamin Kobler)
und zwei Schlagzeuger (László Hudacsek, Rie Watanabe)
haben sich erst dieses Jahr zusammengetan. In Witten wirkten sie
so souverän, als spielten sie schon ein Jahrzehnt gemeinsam.
Für ihre Besetzung hatten Jérôme Combier, Paul
Usher und Oliver Schneller neue Stücke komponiert, virtuos
und farbig Combiers „Sables de vieux os“, brillant
komponiert Schnellers „Resonant Space“.
Vielbeschäftigt auch das Arditti String Quartet, das sich
für Ivan Fedeles „Capt-Actions“ für Akkordeon,
Streichquartett und Live-Elektronik sogar wie Weltraumpiloten verkabeln
lassen musste. Auf jeden Fall ist Fedeles „Palimpsest“-Streichquartett
(ohne Live-Elektronik) das substanzreichere Werk.
Das Schlusskonzert bestritt das Ensemble Modern unter Lucas Vis
mit vier Uraufführungen von Márton Illés („Torso
III.“), Sun-Young Pagh, Markus Hechtle („Vertigo – vor
dem Fall“) und Bruno Mantovani. Mantovanis „Si près,
si loin“ (So nah, so fern) für zwei Klaviere und zwei
Ensemblegruppen bestach durch die kompositorische Perfektion, die „Vierzehn
Szenen“ der jungen Koreanerin Sun-Young Pagh durch eine feine
Klanglichkeit. Markus Hechtles „Vertigo – vor dem Fall“ versucht,
apokalyptische Ängste und Visionen vom Ende unserer Welt in
Klänge zu fassen – es entstand dabei eine sehr expressive
Musik. Márton Illés‘ „Torso III.“ folgt,
wie der Komponist sagt, dem „Prinzip der Energieschatten-Bildung“: äußerst
konzentrierte Motiv-Anhäufungen sammeln gleichsam Energie,
die dann auf andere Teile der Torso-Komposition abgestrahlt werden.
Das klingt komplizierter als es ist, aber auf jeden Fall sprang
daraus eine sehr dicht komponierte Musik heraus. Erfreulich bei
diesem Konzert war es, das Ensemble Modern wieder einmal als Avantgarde-Formation
zu erleben; man hatte ja schon manchmal den Eindruck, dass die
häufige Beschäftigung mit Crossover, Frank Zappa oder
Dreigroschenopern dem strengen Avantgarde-Stil, den das Wiener „Klangforum“ inzwischen
fast perfekter beherrscht, abträglich wäre.
Zum Konzept der Wittener Programmgestaltung gehören neben
den sechs größeren Konzerten auch diverse kleinformatige
Veranstaltungen, in denen das jeweilige Thema intensivierend gespiegelt
wird. Diesmal waren es drei Konzerte unter dem Titel „Stimme.
Instrument“. Einige der hier gebotenen Stücke wurden
schon erwähnt, unter anderem Aperghis’ „Récitations“ mit
Salome Kammer. Nicht übersehen werden soll aber auch Alvin
Luciers „Man Ray“-Komposition, eigens für die
Kammer geschrieben. Ungewöhnlich der Anblick einer doppelten
Salome Kammer: als Vokalartistin und als Cello-Spielerin (siehe
Bild oben rechts). Lucier wurde durch bestimmte Strukturen auf
Man Rays Photographie „Le
Violon d‘Ingres“ aus dem Jahre 1924 zu seiner Komposition
angeregt: zum auf und ab glissandierenden Cello singt Salome Kammer
einen langgehaltenen Ton auf den Vokal „u“, der ein
besonderes Spannungsverhältnis zu den Glissando-Partien des
Cellos schafft. Im letzten Abschnitt des vierteiligen Werkes belebt
sich die Struktur durch kürzer gehaltene Töne, die Sängerin
summt hierbei einen Klang auf den Konsonanten „m“,
also „mmm…“. Alvin Lucier ist inzwischen fünfundsiebzig
Jahre alt, er war früher schon häufiger in Witten vertreten.
Ein guter Gedanke deshalb, ihn mit dieser Komposition wieder einmal
ins Wittener Programm einzubinden.
Gern begegnete man auch wieder Erwin Stache. Seine Klanginstallationen
haben die Wittener Kammermusiktage schon öfter vorteilhaft
animiert. Diesmal standen im Park vor dem Haus Witten auf mehreren
kleinen Podien hohe, schlanke
Metallstangen, die bei entsprechender Doppelberühung Töne,
Klänge, sogar kleine Musiken abstrahlten, je nach Intensität
der Berühung. Im Haus Witten hatte Stache drei Klanginstallationen
aufgebaut: ein O-Tonbuffet, das beim Hochheben des Geschirrs entsprechende
Klänge oder Geräusche erzeugt, ferner ein mechanisch
angetriebenes Klangobjekt, das wie ein Transportband Gegenstände
anschlagen lässt sowie, sehr hübsch, eine aufgeklappte
Zither, auf deren Saiten eine hin-und herspringende Metallkugel
Tonkombinationen erklingen lässt.
Was an Erwin Staches Klanginstallationen immer wieder gefällt,
ist deren hohe Musikalität. Die Materialien funktionieren
in ihrem Zusammenspiel nicht abstrakt, gleichsam als ein seelenloses
Mobile, sondern erscheinen stets musikalisch eingebunden. Staches
Klanginstallationen erscheinen weniger ingenieurhaft konstruiert,
als vielmehr komponiert. Künstlerische Phantasie beflügelt
alle seine technischen Erfindungen. Sie besitzen eine ganz eigene
Poesie und Magie.