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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 9
56. Jahrgang | Juni
www.beckmesser.de
Neues Europa
Aufstand der Saturierten: Von Schiebung war die Rede, und die
Verlierer, die sich zuvor selbstsicher als Sieger gewähnt hatten, ergingen
sich in wütenden Protesten. Die „Osteuropäer“ hätten
sich untereinander abgesprochen, um die „Westeuropäer“ hinauszudrängen.
Ein Wiederaufguss der unseligen Debatte vom „neuen“ und „alten“ Europa,
die vor Jahren der Irak-Krieger Rumsfeld mit Ranküne, aber
guter Beobachtungsgabe angezettelt hatte?
Das Finale des Eurovision Song Contest aus Helsinki hat nun gezeigt:
Etwas muss wohl dran sein an diesem Ost-West-Gegensatz. Er hat
aber nichts mit Verschwörungsstrategien zu tun, sondern vielmehr
mit den unterschiedlichen ästhetischen Vorstellungen, die
wiederum Ausdruck eines grundsätzlich anderen Lebensgefühls
in den Ländern diesseits und jenseits des früheren Eisernen
Vorhangs sind. Insofern war es durchaus aufschlussreich, dieses
scheinbar unpolitische Megaereignis aus der Glitzer- und Glamourwelt
der Fernsehkultur ein bisschen genauer anzuschauen.
Der „Westen“ wurde vom „Osten“ glatt abserviert,
und das zu Recht. Auf den ersten Plätzen lagen Serbien, Ukraine,
Russland, die Türkei, Bulgarien und Weißrussland, die
Schlussränge garnierten das große Frankreich, das Pop-Empire
United Kingdom und die klassische Bardennation Irland. Die deutsche
Band dümpelte irgendwo im hinteren Mittelfeld.
Die Wertungen, die per SMS und Telefon abgegeben werden konnten,
repräsentieren zweifellos reale Megatrends, auch wenn es in
manchen Fällen nach gut organisierter Stimmabgabe aussah.
In Ländern mit Migrantenkulturen, starken Minderheiten oder
nachbarschaftlichen Bindungen sorgten deren Anhänger oft für
entscheidende Stimmenzahlen. Die Skandinavier prämierten sich
gegenseitig, in Estland siegten die Russen, Zypern stimmte für
Griechenland und in Deutschland holte der türkische Beitrag
die meisten Stimmen. Was wieder einmal zeigte, dass der Kampf um
die kulturelle Hegemonie von den Minderheiten als Teil des politischen
Kampfes verstanden wird.
Was aber ließ die östlichen Beiträge so attraktiv
erscheinen? Generell lässt sich sagen: die geradlinige, durch
mediale Tricks und Klischees kaum getrübte Vitalität
des Vortrags. Das subjektive Engagement, das frische Musizieren
siegte über technische Mätzchen und all die verschwiemelten
Ideen der PR-Strategen westeuropäischer Finalisten. Das äußerte
sich in einer Direktheit des vokalen Ausdrucks, der sich immer
wieder mit existenzieller Dringlichkeit Bahn brach, in einem durch
vollen Körpereinsatz beglaubigten Rhythmus und in vielfältigen
Anleihen bei der regionalen Folklore, verbunden mit durchschlagskräftigen
Show-Elementen. Die Russen schickten drei Naugthy Girls in kniefreiem
Klosterschülerinnen-Outfit ins Rennen, die mit ihrem spielerischen
und zugleich perfekt einstudierten Arrangement den dritten Platz
eroberten. Die bulgarische Sängerin brillierte mit aufregender
mikrotonaler Melodik und mitreißenden Schlagzeugeinlagen.
Die in bizarre Glitzeruniformen gekleidete Truppe aus der Ukraine
skandierte zum reduzierten Straight-Rhythmus ihre
Nonsense-Verse: „sieben, sieben, einszwei“ und holte
damit den zweiten Preis – der schrillste Beitrag des ganzen
Wettbewerbs.
Verdiente Siegerinnen wurden die sechs Serbinnen mit „Molitva“,
einem Gruppengesang in der Volksmusiktradition, aus dem die Lead-Sängerin
Marija Serifovic, ein Anti-Glamour-Typ mit Pilzkopffrisur, mit
ausdrucksstarken Melodiebögen herausragte. Starke Emotion,
gepaart mit hoher Gesangskultur, vom Schnulzenniveau deutscher
Fernseh-abende meilenweit entfernt.
Die Beiträge aus dem Osten demonstrierten den Sieg der Manpower über
den Apparat und über Ideologien aller Art. Nach Jahrzehnten
der Gängelung zeigen die Künstler von Ungarn bis Armenien,
von Litauen bis Moldavien auch eine gesunde Skepsis gegenüber
den ungeschriebenen Vorschriften der westlichen Medienkultur – dem
Firlefanz von Gender-Moden, kraftlosen Ironien und bunt inszenierten
Unverbindlichkeiten.
Beim internationalen Publikum kommt das offensichtlich an. Die
leicht tuntige Heiterkeit, mit der die in Pinkfarben gekleideten
Franzosen von der Jolie Demoiselle und der Tour Eiffel parlierten,
hatte keine Chance gegenüber dem hinterhältigen Witz
von Andrej Danilko alias Verka Serduchka aus der Ukraine. Platz
22 (von 24) für Frankreich. Die Schweden ließen einen
selbstverliebten Glamourboy sein Ego ausstellen – Platz 18.
Im deutschen Beitrag besang Roger Cicero augenzwinkernd die neue
Macht der Frauen und ließ dabei mit seinem Frank-Sinatra-Hütchen
die gute alte Bigband-Ära wieder aufleben (warum eigentlich?).
Demgegenüber demonstrierte die Truppe aus Georgien Frauenpower
real in Gestalt der mitreißenden Sopho, deren „Visionary
Dream“ im Hintergrund von vier wilden Säbeltänzern
kontrapunktiert wurde. Geschlechterspannung pur – Platz zwölf
für Georgien.
Ein frischer Wind weht aus dem Osten. Die mit den Konzernetagen
verbandelten Privilegienbesitzer aus den westlichen Metropolen
müssen sich warm anziehen. Für diejenigen, die auch von
massenwirksamen Genres mehr erwarten als technisch hochgerüsteten
Ideologieschrott, bringt er eine Klimaveränderung, die überfällig
war.