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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 13-14
56. Jahrgang | Juni
Kulturpolitik
Die Wiederkehr des Immergleichen
Über Musikerziehung und die innere Sicherheit · Statement
von Jürgen Vogt
Erinnern Sie sich eigentlich noch? Im November 2006 überfiel
ein 18-Jähriger schwerbewaffnet seine ehemalige Schule in
Emsdetten, verletzte 30 Personen und tötete anschließend
sich selbst. Das Entsetzen in den Medien war enorm, hielt aber
selbstverständlich nicht lange an. Immerhin hatte man die
Ursachen schnell gefunden: Der jugendliche Amokläufer war
ein sozialer Außenseiter, der sich in die phantastische Welt
der so genannten „Killerspiele“ flüchtete, die
er dann in die Wirklichkeit umsetzen wollte. In einer Blitzdiagnose
wurden sofort diese Computerspiele für die Tat verantwortlich
gemacht, und Politiker aller Couleur traten vor die Mikrophone
und sprachen sich für deren Verbot aus.
Ping
Qiu: „Rote Schulbänke“, Erfurt 2002. Die
Installation in Gera war eine Reaktion der Künstlerin
auf den wenige Tage zuvor geschehenen Amoklauf an einer
Schule in Erfurt. Ein aktuelles Projekt von Ping ist ein
Kunstgarten in Pasewalk zum Thema Europa ohne Grenzen.
Foto: Ping Qiu
Eher am Rande dieser Diskussionen meldeten sich aber auch nicht
wenige zu Wort, die Musikerziehung als Mittel propagieren, solchen
Gewaltausbrüchen prophylaktisch zu begegnen. Geradezu epidemisch
wird dabei auf das Diktum des ehemaligen Bundesinnenministers Otto
Schily verwiesen, nach dem die Schließung von Musikschulen
eine Gefährdung der inneren Sicherheit darstelle. Musik an
sich, vor allem aber dem eigenen Musikmachen, wird dabei ein ganzes
Bündel an positiven Wirkungen zugeschrieben: nicht nur stärkt
sie das Immunsystem und die Einschlafbereitschaft; vor allem aber
macht sie Menschen sozial verträglicher.
Nun gibt es aber auch die gerade entgegengesetzte Behauptung,
nach der das Hören von Musik aus der rechten Szene, aber auch von Heavy Metal, Gothic,
Dark Wave und so weiter nicht gewaltverhindernd, sondern geradezu gewaltauslösend
sei. Entweder, eine der beiden Thesen ist demnach falsch, oder aber, sie sind
in einem differenzierteren Bild zusammenzuführen: In die Schule gehört
die Streicherklasse und Mozart, während der Gangsta-Rap zusammen mit den
Killer-Spielen auf dem pädagogischen Index landet. Eine dritte Möglichkeit
besteht schließlich darin, dass beide Behauptungen in etwa dem entsprechen,
was der Philosoph Harry G. Frankfurt vor einiger Zeit als „Bullshit“-Phänomen
beschrieben hat: Wer Bullshit von sich gibt, der lügt nicht etwa, denn
das würde Absicht voraussetzen. Auch ist es keineswegs so, dass es notwendig
falsch ist, was er sagt. Auch kann er es in bester Absicht sagen. Das Ärgerliche
am Bullshit ist, dass derjenige, der ihn von sich gibt, ganz offensichtlich
gar keinen sonderlichen Wert darauf legt, ob seine Aussage wahr oder falsch
ist, ob sie bewiesen werden kann, oder auch nicht; die Hauptsache scheint zu
sein, die Kommunikation läuft irgendwie weiter und man signalisiert dadurch
seine schiere Präsenz – wer redet, der ist nach Gottfried Benn immerhin
noch nicht tot. Die Verärgerung über Bullshit ist also zum Beispiel
weniger wissenschaftlicher, als vielmehr moralischer Art: Wie kann man so gedankenlos
daherreden?!
Ein ganzes Pandämonium von musikpädagogischem Bullshit findet sich
etwa auf der Homepage der Musikschulen in Niedersachsen: Von Christian Wulff
bis Karl-Heinz Rummenigge werden hier zahlreiche „Experten“ in
Sachen Musikpädagogik zitiert, die den hohen Wert der musikalischen Bildung
rühmen, wobei so ziemlich jeder dabei darunter etwas anderes versteht.
Kostprobe gefällig? „Musik schafft Stimmungen. Musik verbindet.
Musik kann die Mauern in den Köpfen und die aus Stein überwinden“ (Ute
Vogt, SPD). Oder, aus Gründen des Proporzes: „Musik ist in hervorragender
Weise geeignet, die kognitiven Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen
zu fördern und durch eine emotionale Komponente zu ergänzen“ (Peter
Hintze, CDU). Ist das falsch? Nun, vielleicht nicht, ist aber eigentlich auch
egal, eben Bullshit. Nun mag man diesen Prominenten vielleicht nachsehen, dass
ihre öffentliche Präsenz zum großen Teil geradezu durch das
gewohnheitsmäßige Äußern von Bullshit über alles
und jedes definiert ist. Bedenklicher ist es allerdings, wenn dieses Phänomen
auch auf den eigentlich musikpädagogischen Diskurs übergreift, und
die Rede von der gewaltverhindernden oder -auslösenden Wirkung von Musik
ist nicht weit davon entfernt.
Zunächst: Der historisch belehrte Musikpädagoge nimmt verblüfft
zur Kenntnis, wie hier die schon von Platon im „Staat“ vertretene
These, dass bestimmte Musiken (bei Platon Tonarten) angeblich wiederum ganz
bestimmte Wirkungen auf die Persönlichkeit der Hörer ausüben,
fröhliche Urständ feiert – und dies oftmals sogar unter direkter
Benennung des Philosophen. Aber schon in der Antike stand diese Behauptung
auf wackligen empirischen Füßen, von der mehr als zweifelhaften
politischen Ausrichtung des platonischen Erziehungsmodells einmal ganz abgesehen.
Offensichtlich wird hier von einem einfachen Reiz-Reaktionsmodell ausgegangen,
das doch Psychologie und Pädagogik schon lange hinter sich gelassen haben.
Gerade die Diskussion über die gewaltauslösende Wirkung von Musik
kann hier als lehrreiches Beispiel dienen: Allem Anschein nach ist weniger
die Frage sinnvoll, ob eine bestimmte Musik direkt Gewalt auslöst,
sondern welche Rolle Musik und Gewalt in bestimmten Jugendkulturen spielen.
Es ist allem Anschein nach sicherlich so, dass es Jugendkulturen
gibt, zu deren Identität Gewalthandeln ebenso gehört, wie das Hören bestimmter
Musiken. Dies bedeutet aber keineswegs, dass diese Musiken einfach als ursächlich
für das Gewalthandeln angesehen werden können; ein noch so aggressives
und gewaltverherrlichendes Musikstück bleibt immer eine popkulturelle
Inszenierung und mithin ein (auch) ästhetisches Gebilde – wäre
dies anders, so könnte man auch in jedem Baudelaire-Leser einen potentiell
nekrophilen Perversen vermuten. Es ist daher sogar denkbar, dass eine Umlenkung
der realen Gewalt auf die inszenierte Gewalt der Musik sozialpädagogisch
anvisiert werden kann; dies erscheint sogar insgesamt als aussichtsreicher
als ein Verbot dieser Musik. Umgekehrt macht daher auch Mozart nicht automatisch
sozial verträglicher – hier muss man nicht ausführlich an die
musizierenden Nazis erinnern –, sondern es kommt darauf an, welchen Gebrauch
Schüler von dieser Musik machen.
Aber all dies ist ja grundsätzlich seit langem bekannt. Nichts spricht
dafür, dass es eine „Erziehung durch Musik“ geben könnte,
die zudem nach einem simplen Ursache-Wirkungsmodell funktionierte. Und angesichts
der Geschichte der Musikpädagogik wäre dies auch nicht einmal wünschenswert,
da in solchen Modellen seit Platon stets ein manipulatives Erziehungsdenken
zugrunde liegt – mit welch guten Absichten dies auch immer vertreten
wird. Manipulativ deshalb, weil immer auf die prä-diskursiven Kräfte
der Musik gesetzt wird, die in der Psyche der Kinder und Jugendlichen dort
wirken sollen, wo die kritisch-emanzipative Vernunft noch nicht zur Geltung
kommt oder auch gar nicht jemals kommen soll. Und auch von einer spezifischen „ästhetischen
Rationalität“ ist nirgendwo die Rede, wenn es in erster Linie um
stabiles Sozialverhalten gehen soll; eher schon wieder von „Musischer
Erziehung“.
In dieses Bild passt auch die ganz naive Rede von der „gemeinschaftsbildenden“ Kraft
der Musik beziehungsweise des Musikmachens. So behauptete beispielsweise der
Vorsitzende des VdM in der FAZ im November 2006, nach einer Teilhabe an einer
intensiven Musikerziehung, vom (natürlich mütterlich gesungenen)
Wiegenlied zum Orchester, würden „die Menschen davor scheuen, das
Gemeinschaftserlebnis in sein Gegenteil zu verkehren.“ Wer hier eine
unvermittelt intendierte Rückkehr der Jugendmusikbewegung und ihrer Theoreme
vermutet, der liegt falsch; schließlich handelt es sich in erster Linie
um Bullshit. Dennoch ist die Schlichtheit der zugrunde liegenden Vorstellungen
vom sozialen Lernen verblüffend. Dieses erweist sich in erster Linie als
sozial-integrativ: das gemeinsame Musikmachen soll dazu dienen, die soziale
Kohäsion innerhalb der musikmachenden Gruppe zu verstärken. Dass
alle soziale Erziehung auch die Interpretation und Reflexion sozialer Regeln
umfasst, wozu auch die kognitive Begründung und Aushandlung von Regeln
und Rollenerwartungen gehört, wird souverän ausgeblendet. Und dies
ist dann wirklich eine „gemeinschaftliche“ Vorstellung des Sozialen,
die wieder an die alte, und doch eigentlich aufgearbeitete Dichotomie von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ erinnert.
Man kann sich also nur wundern über das offensichtlich kurze
Gedächtnis
all derjenigen, die sich in diesem Sinne als Advokaten der Musikerziehung
zu Worte melden, und die offenbar bereit sind, einen großen
Teil musikpädagogischer
Einsichten der letzten Jahrzehnte ohne Umstände über
Bord zu werfen. Über
die Ursachen kann man nur spekulieren; schlichte Unkenntnis dürfte
nur eine davon sein. Möglicherweise handelt es sich hier um
ein Symptom für
ein tiefer sitzendes Problem, nämlich die Unsicherheit über
legitimierbare Ziele des Faches Musik in der allgemein bildenden
Schule. So konnte etwa Michael
Alt noch 1968 davon sprechen, Musikerziehung in einer demokratischen
Gesellschaft hätte im Sinne von Chancengleichheit die Aufgabe,
alle Kinder und Jugendliche an die Werke der bürgerlichen
Musikkultur heranzuführen. Eine solche
einheitliche Zielperspektive, die im Übrigen schon damals
Makulatur war, hat die Musikpädagogik schon lange nicht mehr
zu bieten. Handlungs- und erfahrungsorientierte Ansätze bieten
stattdessen ein weit gefächertes Spektrum
von Zielvorstellungen, die allesamt das lernende Subjekt und sein
Verhältnis zur Musik in den Mittelpunkt rücken. Es wird
gegenwärtig leicht übersehen, dass etwa im Kontext der
PISA-Studien ganz ähnlich auch immer von ästhetischen „Modi
der Weltbegegnung“ gesprochen wird, die notwendig zur Grundstruktur
der Allgemeinbildung und des Fächerkanons gehören. Die
Musikpädagogik verfügt über genügend Konzepte,
um einen solchen Modus der Weltbegegnung auch unter den Bedingungen
von Schule zu realisieren oder zumindest anzubahnen. Es bedarf
also gar keiner Rechtfertigung der Ziele des Faches durch kurzschlüssige
Wirkungsannahmen.
Dies gilt aber offenbar nur in der Theorie und nicht in der Praxis.
Angesichts der unguten bildungspolitischen und
-ökonomischen Tendenzen, unter dem Vorwand von PISA die schulische
Allgemeinbildung dem Wirtschaftsstandort Deutschland zu opfern,
mag es verzeihlich erscheinen, wenn die Musikpädagogik strategisch
operiert und lautstark Reklame für die angeblichen „Nebenwirkungen“ des
Musikunterrichts an Stelle der eigentlichen Fachziele macht. Gefährlich
bleibt diese Taktik aber allemal, und dies nicht nur, weil aktuelle
bildungspolitische Vorgaben die Ausformulierung gerade fachspezifischer
Bildungsstandards fordern: Irgendwann könnten die fachübergreifenden
Ziele die eigentlichen Fachziele soweit überlagern, dass niemand
mehr in der Lage wäre, den Unterschied noch zu benennen oder
auch nur wahrzunehmen. Und man sollte nicht auf einen neuen Adorno
spekulieren, der dann die selbstvergessen musizierenden Musikpädagogen
aus ihrem Gemeinschaftsschlummer aufweckt. Was bleibt als Fazit?
Der Nachfolger Otto Schilys, Wolfgang Schäuble, hat in aller
Bescheidenheit wohl den Nagel weit mehr auf den Kopf getroffen
als sein Vorgänger: „Ich habe selbst das Glück
gehabt, als Kind im Violinspiel unterrichtet zu werden und viele
Jahre musiziert zu haben. Welche Wirkung das für meine Persönlichkeitsentwicklung
gehabt hat, will ich vorsichtshalber nicht beurteilen“. Sicherlich
wäre es gut für den Amokläufer von Emsdetten gewesen,
etwas von diesem Glück erfahren zu können. Vielleicht
hätte man aber einfach nur mehr mit ihm reden sollen.