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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 16
56. Jahrgang | Juni
Hochschule
Lernen am lebendigen, zeitgenössischen Objekt
Neuer Master für Neue Musik an der Musikhochschule Frankfurt
Instrumentallehrer, Orchestermusiker, Solist, Interpret Alter
Musik – oder
Zeitgenössischer Musiker? Das Ensemble Modern und die Frankfurter
Musikhochschule eröffnen Musikstudenten ein neues Berufsfeld:
Seit dem Wintersemester 2006/2007 können sie in Frankfurt
den „Master of Music“ in Zeitgenössischer Musik
erwerben. In dieser Form ist das einjährige Aufbaustudium
weltweit einmalig, zumal es gekoppelt ist mit einem lukrativen
Stipendium.
Für Sekt und Brezel hat er in der Pause keine Zeit. Michael
Nitsch-
ke ist damit beschäftigt, Lautsprecher zu positionieren, auf
richtiger Höhe auszurichten, an seinem Mischpult Knöpfe
und Hebel einzustellen für das nächste Stück: „Crying
on the inside (Laughing on the outside)“, das von eingespieltem
Gelächter durchzogene Werk für Bassflöte, Schlagzeug
und Elektronik des Iren David Fennessy. Die Uraufführung findet
im Dachsaal des Hauses der Deutschen Ensemble Akademie in Frankfurt
statt – jenem Gebäude, in dem auch das renommierte Ensemble
Modern zuhause ist und die Internationale Ensemble Modern Akademie
(IEMA). Seit 2003 können junge Musikerinnen und Musiker, die
sich in der Neuen Musik-Szene etablieren wollen, hier an einem
Stipendiatenprogramm teilnehmen, das gefördert wird durch
die Kulturstiftung des Bundes und die Kunststiftung NRW.
Der Komponist David Fennessy und der Klangregisseur Michael Nitschke
sind zwei der derzeit insgesamt 14 Stipendiatinnen und Stipendiaten,
die ein Jahr lang monatlich 800 Euro bekommen, um sich ganz aufs
Studium konzentrieren zu können – und das findet seit
dem Wintersemester 2006/2007 auch an der Hochschule für Musik
und Darstellende Kunst in Frankfurt statt. Hier können die
Stipendiaten nach bestandener Aufnahmeprüfung neuerdings ihren
Master of Music (M.Mus) in Zeitgenössischer Musik erwerben.
Voraussetzung ist ein bereits abgeschlossenes Studium an einer
Musikhochschule. In acht zweitägigen theoretischen Seminarblöcken
erfahren die Stipendiaten alles über die wesentlichen musikgeschichtlichen,
-stilistischen und -ästhetischen Entwicklungen des 20. und
21. Jahrhunderts: „Im letzten Block vor einigen Tagen ging
es um audiovisuelle Projekte: Inwieweit beeinflussen sich Audio
und Video bei Aufführungen und Opern“, erzählt
Michael Nitschke. Thema waren aber auch schon die unterschiedlichen
Notationsformen in der Neuen Musik: Klassische Noten-Notation,
eine Art graphische Zeichensprache, Zahlencodierungen? „Unsere
Komponisten bringen immer Beispiele mit oder zeigen anhand ihrer
eigenen Arbeit, wo es schwierig wird, und jeder von uns hat natürlich
auch schon Stücke kennen gelernt, wo Probleme auftreten.“
Anders als im Masterstudiengang „Interpretation Zeitgenössischer
Orchestermusik“, der inzwischen an der Freiburger Musikhochschule
angeboten wird, sind in Frankfurt nicht nur die Instrumentalisten
angesprochen, sondern auch Klangregisseure, Komponisten und Dirigenten.
Diese haben es bei diesem Masterstudiengang besonders gut getroffen,
denn sie können sozusagen „am lebendigen Objekt“ experimentieren – den
Instrumentalisten. Die Komponisten bringen auf diese Weise nichts
Unspielbares aufs Papier, was in der Neuen Musik-Szene schon häufiger
vorgekommen ist.
Auch Michael Nitschke, der hier eine vorzügliche technische
Ausstattung vorfindet, nimmt bei den Proben vorab verschiedene
elektronische und akustische Tests vor, um den Vorstellungen seiner
Kommilitonen entgegenkommen zu können. Sonst ist Nitschke
damit beschäftigt, etwaige Zuspiel- oder Mehrspurbänder
zu koordinieren, die Software zu programmieren. In etwa 80 Proben
zu 8 Konzerten, die auch Teil der Prüfungen sind, werden die
Ideen Stück für Stück erarbeitet. Und alle haben
hier recht – nicht nur der Dirigent, der in der Neuen Musik
weniger als Analytiker und Interpret der Werke fungiert, sondern
vor allem als Vermittler zwischen Komponist und Instrumentalisten.
Zehn sind es derzeit, darunter zwei Streicher, ein Trompeter, ein
Klarinettist, zwei Flötisten, zwei Pianisten und zwei Schlagzeuger,
die auch aus Island, Belgien, Spanien, Polen, der Schweiz, Zypern,
Syrien und Japan kommen. Sie profitieren in diesem Studiengang
von etwa dreißig Stunden Einzelunterricht bei Mitgliedern
des Ensemble Modern, bei denen sie die vielfältigen spieltechnischen
Problematiken zeitgenössischer Werke abklären können.
Dabei dürfen die Studenten durchaus auch artfremde Instrumentalisten
um Rat fragen. Die Geigerin Sabine Ahrendt etwa überlegt gerade,
bei einem der Schlagzeuger des Ensembles Unterricht zu nehmen: „Es
geht um ein Stück, das rhythmisch sehr vertrackt ist – ‚Violin
Phase‘ von Steve
Reich, wo man eben dieses ,Phasing’ machen muss, wo
man also immer ganz kurz vor dem Einspiel-Band spielen und dann
in die nächste Achtel reinrutschen muss. Und das finde ich
sehr schwierig.“ Netzwerke werden nicht nur intern geknüpft:
Gemeinsam mit zwei weiteren Stipendiaten hat Sabine Ahrendt gerade
in Berlin ihr erstes eigenes Projekt auf die Beine gestellt – eine
szenische Umsetzung von Bernd Alois Zimmermanns Klaviertrio „Presence“,
mit einem Regisseur und einer Tänzerin. Solche Eigeninitiativen
unterstützt die IEMA auch finanziell.
Der Aufbau von Kontakten ist ein Bonus der Ausbildung, ebenso
der reelle Praxisbezug: Während sich die „normalen“ Hochschulstudenten
beim Einüben ihrer Konzertprogramme in der Regel Zeit lassen
können, müssen die Stipendiaten bewusst unter einem gewissen
Zeitdruck arbeiten, denn so wird es auch im späteren Berufsleben
sein. Neun Stunden Proben am Tag kommen da schon mal vor – zusätzlich
zum eigentlichen Üben. „Man soll sie fordern, ab und
zu auch mal überfordern, denn in der Situation sind wir auch.
Das ist Realität. Man kommt oft an die Grenzen und muss lernen,
damit umzugehen, Reserven aufzubauen“, erklärt Michael
Kasper, Cellist beim Ensemble Modern und im Vorstand der IEMA.
Damit die Stipendiaten sich nach dem Studium auf dem freien Markt
behaupten können, plant das Ensemble Modern fürs kommende
Semester zudem ein Seminar, in dem sie über Projektmanagement
und Sponsorenkontakte informiert werden – ein weiterer Vorteil
gegenüber „normalen“ Hochschulstudenten, die mit
solchen Fragen viel zu oft allein gelassen werden. Und das, obgleich
immer mehr angehende Profimusiker sich inzwischen freiberuflich
etablieren wollen, was nicht nur eine Reaktion ist auf die Schließungen
und Fusionen zahlreicher Orchester in den vergangenen Jahren. „Ich
habe schon mal in einem Profiorchester gespielt und dort herrscht
eben eine ganz andere Arbeitsmoral. Mir gefällt die Arbeit,
wo man wirklich mit Enthusiasmus hinter der Sache steht, besser“,
sagt Sabine Ahrendt und vertraut auf die Zukunftsperspektiven,
die ihr der Frankfurter Masterstudiengang bietet. Davon können
auch weitere Musikerinnen und Musiker profitieren (Info: www.internationale-em-akademie.de).
Mit dem Master of Music in den Freien Beruf: Nicht nur die Musik,
auch die Musiker gehen neue Wege. In Frankfurt bekommen sie das
Rüstzeug dazu. „Ich vergleiche das mit Jazz-Spielen.
Gut Jazz-Spielen wird man nicht lernen können, wenn man das
mal hier oder dort in einem Workshop macht, sondern indem man es
andauernd hört und macht, und eigentlich ist es genauso mit
der Neuen Musik: Man muss die unterschiedlichen Richtungen, Komponisten,
musikalischen Sprachen kennen lernen, damit man sie auch adäquat
umsetzen kann.“ – Michael Kasper bringt es auf den
Punkt.