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2007/06 | Seite 11
56. Jahrgang | Juni
Praxis: Konzertvermittlung
Kinder sind die Zukunft – auch im Konzertsaal
„Wie entsteht Musik?“ – ein Konzertvermittlungsprojekt
des Mitteldeutschen Rundfunks
Die im April 2007 von der ARD bundesweit mit großer Resonanz
ausgestrahlte Themenwoche „Kinder sind Zukunft“ nahm
der Traditionsklangkörper des MDR in Leipzig erstmalig zum
Anlass, sich einem konzertpädagogischen Projekt für Grundschulkinder
zu widmen. Das abschließend wie so oft einhellig als „außerordentlich
gelungen“ bewertete Konzept ist einmal mehr ein Indiz dafür,
dass die besten und tragfähigsten Projekte an den Orten entstehen,
wo sich die Orchester- und Chormitglieder selbst mit eigenen Ideen
an der inhaltlichen Ausgestaltung des Gesamtkonzeptes beteiligen.
Zur großen Freude aller Teilnehmenden ließen sich für
die Leipziger „Premiere“ ehrenamtlich ein Schlagzeugquartett,
ein Bläserquintett sowie vier Choristen des MDR gewinnen,
Schulbesuche samt Workshops durchzuführen beziehungsweise
eine Woche später an einem Konzert für Schulklassen mitzuwirken.
Das an die angelsächsische „Response-Tradition“ angelehnte
Konzept wurde für Grundschulklassen entwickelt und enthielt
für Schüler unterschiedlicher Jahrgangsstufen drei altersspezifisch
differenzierte Module: Während die Erstklässler zusammen
mit einem Schlagzeuger in erster Linie selbst experimentierend
auf der Suche nach unterschiedlich knisternden, rasselnden, rauschenden
und klopfenden Klangerzeugern waren, beschäftigten sich die
etwas Älteren interdisziplinärer mit den Zusammenhängen
von Gedichten und Musik, während die Viertklässler bereits
recht eigenständig als „schreibende und malende Komponisten“ zum
Verfassen von Partituren aufgefordert wurden. Eine Woche später
wurden die Ergebnisse in der konzertbezogenen Profimanier auf die
Konzerthausbühne gebracht und in Form einer thematisch stimmigen
Zusammenführung der Kinder- und Profimusikerideen umgesetzt.
Ob solch aufwendige Produktionen jedoch auch weiterhin ehrenamtlich
zu vertreten sind, kann laut Aussage der beteiligten Ensemblemitglieder
nur „die Zukunft“ zeigen…
Thomas
Winkler, Schlagzeuger des MDR-Sinfonieorchesters, dirigiert
die Kindergruppe. Foto: MDR/Höhn
Da sitzen sie: entspannt nach hinten gelehnt und mit geschlossenen
Augen aufmerksam hörend beziehungsweise nach vorn gebeugt
mit wachem Blick das wirbelnde Treiben der Schlagzeuger beobachtend
oder auch lachend vertonten Gedichten sowie einem Bläserquintett
lauschend und last but not least mit vor Erstaunen offenen Mündern
sich über den Klangreichtum einer Sopranistin wundernd: Es
kommt nicht oft vor, dass 80 Kinder so aufmerksam einem Konzert
mit Neuer Musik folgen, wie dies im April 2007 im Musikproduktionskomplex
des MDR in Leipzig der Fall war. Anlass des Kinderkonzerts war
die ARD-Themenwoche „Kinder sind Zukunft“, und diese
vom öffentlich-rechtlichen Senderverbund initiierte Woche
nahm die Hörfunkwelle MDR FIGARO als passende Gelegenheit,
nicht nur über Kinder und für Kinder zu berichten, sondern
auch einmal mit Kindern ein Programm zu gestalten. Die Kulturwelle
organisierte im Vorfeld des Konzertes Schulbesuche bei drei Leipziger
Grundschulklassen. Gemeinsam mit der Musikwissenschaftlerin Christine
Mellich, die das Konzept erarbeitet hatte, kamen Musiker der MDR-Klangkörper
in die Unterrichtsräume und stellten zunächst einmal
jeweils ihre Instrumente vor.
Da war zum Beispiel Thomas Winkler, ein Schlagzeuger des MDR-Sinfonieorchesters.
In zwei Doppelstunden in der 120. Grundschule im Leipziger Stadtteil
Großzschocher ließ er es so richtig krachen. Denn der
Percussionist schleppte einen Koffer voller Schlagwerk mit zu den
Kindern und probierte gemeinsam mit den Erstklässlern das
Mitgebrachte gebührend, also lautstark, aus: Dynamik, Tempo
und Rhythmus standen im Mittelpunkt der Probe – schließlich
sollte das vorzubereitende Konzert unter dem Motto stehen: „Wie
entsteht Musik?“ Neben dem Spaß an leisen und lauten
Geräuschen kam auch die Freude am Selbermachen nicht zu kurz:
Denn – so viel war sehr schnell klar – ein Schlagwerk
lässt sich aus vielerlei Gegenständen herstellen. Als
Hausaufgabe sollten die Kinder Rasseln basteln sowie nach klangvollen
Topfdeckeln und anderen „klingenden“ Alltagsmaterialien
suchen.
Für Thomas Winkler war es in der zweiten Doppelstunde eine
Woche später faszinierend zu erleben, wie die „Rasselbande“ sehr
schnell einen gemeinsamen Rhythmus fand, aber mehr noch erstaunte
ihn die Fähigkeit zur Stille: „Das hätte ich so
nicht erwartet, wie still eine Gruppe von 20 Siebenjährigen
sein kann, wie gut sie einen gemeinsamen Anfangs- und Endpunkt
findet, welche positive Gruppendynamik da entstehen kann.“ Im
Konzert gaben die Schülerinnen und Schüler aus Großzscho-cher
dann den Auftakt. Und spätestens, als ihnen Thomas Winkler
und drei seiner MDR-Kollegen Ausschnitte aus „Living Room
Music“ von John Cage vorspielten, bekamen sie einen Eindruck
von der Kraft und dem Ausdruck, der in Schlagwerken aus Alltagsgegenständen
stecken kann.
Die Kombination aus eigener Musik-(mach-)erfahrung und der konzertanten
Darbietung durch Profimusiker gehörte zum Erfolgskonzept des
Konzertes, welches an die britische „Response“-Tradition
angelehnt ist, wie die Musikwissenschaftlerin Christine Mellich
am Rande des Konzertes sagte: „In Großbritannien gibt
es seit langem schon die ,Response‘-Musikprojekte. Das kommt
vom ‚Responsorium‘ – einer mittelalterlichen
Vokalkomposition, die von einem Vorsänger und einer unbedarften
Gemeinde vorgetragen wird. Wenn man dieses Prinzip auf das hiesige
Schülerprojekt mit dem Titel ,Wie entsteht Musik?‘ überträgt,
kann man das durchaus als einen experimentierfreudigen Wechselgesang
verstehen.“ Die „unbedarfte Gemeinde“, erklärt
die Mittdreißigerin, die auch jeweils die Unterrichtsstunden
begleitete, besteht in diesem Fall aus drei Leipziger Grundschulklassen.
Und die Vorsänger, das sind eben die Musikpädagogen und
die Profimusiker wie Thomas Winkler oder Max Hilpert.Letztgenannter
ist ein vielbeschäftigter Bläser des MDR-Sinfonieorchesters,
der seinen Urlaub regelmäßig im Orchestergraben von
Bayreuth verbringt. Für das „Projekt Kinderkonzert“ nahm
er sich die Zeit, den Schülerinnen und Schülern der vierten
Klasse in Panitzsch
vorzuführen, wie aus einem Waldhorn schmetternde Töne
entlockt werden können, was ein Alphorn von einem Ventilhorn
unterscheidet und wie die Länge der gebogenen Rohrstücke
die Tonlagen bestimmen. Viel Spaß hatten die Kinder bei ihren
Versuchen, selbst dem Alphorn Töne zu entlocken, und mit Freude
gingen sie daran, ein vorgegebenes Gedicht zusammen mit dem Orchestermusiker
zu intonieren. Wie klingt ein stolzer, dicker Kater? Und wie ein
schlanker, behänder, der nachts um die Häuser schleicht?
Und wie lässt sich auf einem Horn ein Kampf zwischen den beiden
nachtaktiven Raubkatzen musikalisch am besten ausdrücken?
Die Klang-Ergebnisse ihres gemeinsamen Experimentierens brachten
Musiker und Schüler beim Konzert in Leipzig zu Gehör.
In diesem zweiten Teil des Kindermusikprojektes gab es auch die
Gelegenheit, Vergleiche anzustellen. Das Gedicht „Die Kater“ von
Rhoda Levine wurde nach der Schülerfassung auch in der Originalvertonung
von Luciano Berio aufgeführt, diesmal vom Bläserquintett
des MDR-Sinfonieorchesters.
Der dritte und letzte Teil des Konzertes rückte nach der
Gegenüberstellung
der Parameter Dynamik, Tempo und Rhythmus (Teil 1 – Schlagzeug),
Klangfarbe und Tonhöhe (Teil 2 –
Blasinstrumente) die menschliche Stimme sowie die Notationsmöglichkeiten
von Musik in den Mittelpunkt. Die vierte Klasse der Waldorfschule
in Leipzig-Mockau hatte dafür die Aufgabe erhalten, in Anlehnung
an die Partitur von Cathy Berberians „Stripsody“ eigene
grafische Partituren aus Comic-Strips und Selbstgezeichnetem zu
komponieren. Ein Sängerquartett des MDR-Chores übernahm
es dann, die 18 entstandenen Partiturblätter im Konzert zur
Uraufführung zu bringen. Für die Sängerin Bettina
Reinke-Welsh ein ungewöhnliches, aber erfrischendes Verfahren. „Ich
denke, durch diese Art des Herangehens können Kinder sehr
gut an Musik, und insbesondere an Neue Musik, herangeführt
werden. Die Kraft der Musik durch das eigene Schaffen zu erfahren,
das ist doch ein sehr positives Erlebnis“, sagte die Altistin
nach dem Konzert, in dem ihre Stimme – den Kinderpartituren
folgend – mal als Polizeisirene, mal als hechelnder Hund
und mal als schreiendes Baby gefordert war.
Am Ende des von MDR-Musikredakteurin Bettina Volksdorf moderierten
Konzertes „Wie entsteht Musik?“ stand für alle
Beteiligten fest – es sollte mit diesem „Response“-ähnlichen
Konzert ein Anfang gemacht werden für weitere Projekte dieser
Art. Ob die Kraft dafür auch außerhalb von ARD-Themenwochen
vorhanden ist, das wird die Zukunft zeigen. Die musikalische Bildung
der Kinder sollte es wert sein ...