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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 56
56. Jahrgang | Juni
Portrait
Frische Brise aus Nordost
Paavo Järvi ist neuer Chefdirigent des hr-Radio-Sinfonieorchesters
Ein Sibelius-Problem? Für einen Moment ist Paavo Järvi
irritiert. „A funny way of putting it“, meint er und
lacht über diese „amüsante“ Perspektive auf
einen Komponisten, den er von der Moderne höchst ungerecht
behandelt sieht. Das sei doch der klassische Fall von Selbstblockade. „Man
muss diese Musik nicht mögen, aber sie nicht zu kennen, ist
Verarmung.“ Alles selbstverschuldet also? Eine kleine Schweigesekunde
später gewinnt ein bis dahin freundlich dahinplätscherndes
Gespräch über Dirigentenqualitäten im allgemeinen,
Dirigiervorlieben im besonderen an Tiefe, wird doch mit einem Mal
klar, dass die Kontinentalplatten eines globalisierten Klassik-Verständnisses
in Bewegung sind. An ihren Bruchkanten wird Reibungsenergie frei.
„Kullervo ist ein Statement dessen, was ich hier vorhabe – das
Leben der Musikfreunde aufregender, interessanter zu machen. Für
mich ist das ein verkanntes Meisterwerk. Dass ich hier so etwas
ausprobieren kann, war ausschlaggebend, das Frankfurter Angebot
anzunehmen.“
Als Spross einer estnischen Dirigentenfamilie, der in den Vereinigten
Staaten Ausbildung und Orientierung erfahren hat, sieht sich Järvi
in der Tradition Beacham-Barbirolli-Bernstein. Für die Sibelius-Abstinenz
seiner europäischen Kollegen hat er insofern nur Unverständnis übrig.
Armes altes Europa? – Järvi versteht die Anspielung
und reagiert mit entwaffnender Offenheit. Schon Max Rudolf, sein
ansonsten verehrter Dirigierlehrer am Curtis-Institute Philadelphia
habe von dem Finnen nicht gerade viel gehalten. „Bad Brahms“, „schlechter
Brahms“ habe er seine Sibelius-Erfahrungen zusammengefasst,
womit nun aber leider auch Rudolf, findet Järvi, nur den konventionellen
Standpunkt zu diesem Komponisten tradiert habe. Was nicht heißen
solle, dass er, Järvi, sich Illusionen über das bescheidene
Orchestrierungsvermögen insbesondere des frühen Sibelius
machen würde. Was er aber an dieser Musik schätzt (und
mit den Händen fährt Paavo Järvi über die Umrisse
einer imaginären Plastik) sei die ganz eigene Körperlichkeit
des Klangs – zumal, wenn dieser geformt wird von Klangkörpern
wie dem hr-Radio-Sinfonieorchester, dessen Qualitäten Järvi
in diesem Zusammenhang ebenso rühmt wie die geschmeidig geführten
Tiefbässe des Nationalen Estnischen Männerchors, die
dieser Musik erst recht zu ihrer skulpturalen Existenz verhelfen
würden.
Grund genug, sein Frankfurter Antrittskonzert – allen mitteleuropäischen
Trägern von Sibelius-Bedenken zum Trotz – mit einem
einzigen Programmpunkt zu versehen, eben der Kullervo-Chorsinfonie.
So geschehen im Oktober vergangenen Jahres.
Seitdem ist Paavo Järvi nicht nur künstlerischer Leiter
von Deutscher Kammerphilharmonie Bremen und Cincinatti Symphony
Orchestra – mit dem hr-Radio-Sinfonieorchester hat er seinen
dritten Klangkörper in Chefposition übernommen, wobei
die Frankfurter Bekanntschaft auf inspirierende frühere Gastspiele
zurückgeht: Musikalität, Arbeitsatmosphäre, vor
allem das für ein Rundfunk-Orchester typische Mandat fürs
Zeitgenössische, fürs Unbekannte haben ihn gereizt. Genau
das, was ihm in seinem Dirigentenleben noch gefehlt habe.
„
Nicht beschränkt zu sein durch irgendeine Definition von neuer
Musik – das macht unsere Zeit, anders als noch vor 30 Jahren,
so positiv.“ Nach seinem Selbstverständnis bewegt sich
Järvi zwischen modernitätsfeindlichem Traditionalismus
einerseits und den Gewohnheiten wie Feindbildern der alten Avantgarde
andererseits. Unzweideutig ist gleichwohl das Bekenntnis zur Repertoirerweiterung
mittels neuer Musik, auf die er als amerikasozialisierter Bernstein-Schüler
mit ausgeprägt angelsächsischen Augen schaut – als
selbstbewusster Este obendrein mit dem Sympathieblick für
nordische Komponisten jedweder Couleur: Niel-sen, Sibelius, Stenhammar,
Tubin, Tüür. „Aufbruch“ hat Paavo Järvi
seine erste Spielzeit in Frankfurt überschrieben und das hr-Konzertgelände
neben einem Romantik- und Klassische-Moderne-Schwerpunkt strikt
eingenordet: Hier Sibelius’ vergessene Chorsinfonie, der
Schlachtruf eines jungen Wilden des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts – dort
die Uraufführung des neuen Klavierkonzerts
von Komponistenfreund Erkki-Sven Tüür mit dem Solisten
Thomas Larcher, Klanggestalt des beginnenden 21. Jahrhunderts.
In beiden Fällen frische Brisen fürs Repertoire. Der
Este mit den blauen Augen, dem schütteren Blondhaar und der
tiefen Stimme ist keiner, der gern zaudert, wenn er für sich
eine Frage einmal geklärt hat.
„Was ich nicht möchte, sind Konzert-erfahrungen, in denen die
Dinge abgesichert, vorhersagbar sind. Darin liegt für mich
die Gefahr, weswegen es notwendig ist, die Grenzen zu verschieben,
das Tor zu etwas Neuem aufzustoßen, zu etwas, was ein Publikum – aus
welchen Gründen auch immer – noch nicht gehört
hat.“
Unzweideutig auch das „Ja“ auf die Grundsatzfrage nach
der Zukunft der Klassischen Musik und der des Orchesters. Wie diese
Zukunft aussehen kann – darüber hat Paavo Järvi
recht genaue Vorstellungen. Ebenso aber auch, wie sie auf keinen
Fall aussehen darf. Emphatisch geradezu sein Widerspruch, als die
Rede auf Modeerscheinungen des Konzertlebens kommt. Event? Crossover?
Järvi verzieht sein Gesicht wie in einer Ekelreaktion.
„
Es gibt wirklich nichts Schlimmeres als Crossover-Projekte. Soundtracks
zu Kinofilmen, die als Klassische Musik verkauft werden sind Machenschaften,
die ich verabscheue. Die Kunst-Form wird herabgewürdigt durch
die-se Tenöre und andere Formationen mit ihrem Pop-Star-Getue – das
Ganze ist Müll.“
Eine strikt auf Verkaufserfolg getrimmte Event-Kultur, so Järvi,
gestatte keine Unsicherheit, verweigere sich dem Nicht-Ausrechenbaren,
wovon die Musik, insbesondere die neue nun einmal nicht zu trennen
sei. Dass der Kunst nur jenseits der trügerischen Sumpfblüten
des internationalen music business eine Zukunft erwachsen kann – darauf
zu beharren, darauf zu setzen, macht den Sympathiebonus einer
jungen Dirigentengeneration wie sie Paavo Järvi vertritt.