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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 42
56. Jahrgang | Juni
Rezensionen-CD
Kompositorisches Kreisen um den Kontrapunkt
Orgel-Mysterien: Wilhelm Middelschultes Opus summum auf Compact
Disc
Wilhelm Middelschulte: Orgelwerke. Jürgen Sonnentheil
an den Woehl-Orgeln in St. Petri Cuxhaven, St. Michaelis Hildesheim,
St.
Petrus Canisius Friedrichshafen. (2000 bis 2007)
cpo/jpc 999 739-2, 999 962-2, 777 144-2,
777 215-2
Die Orgel steht im Musikinstrumentenpark in einer der hinteren
Reihen. Von dort in die Öffentlichkeit zu wirken war ihr immer
nur in Grenzen möglich. Deshalb hat sich die Tradition so
berühmter Orgelbauer der Bach-Zeit wie Arp Schnitger im norddeutschen
und Silbermann im sächsischen Raum stets mehr im Stillen fortgesetzt,
und die Aufnahme von Orgelmusik vollzog sich entsprechend mehr
im intimen Gesellschaftsbereich kennerischer Rezipienten. Daran
hat sich durch die Jahrhunderte kaum etwas geändert. Das heutige
allgemeine Konzertpublikum zählt nach Tausenden und bereitet
der Musik die ihr gebührende Öffentlichkeit. Orgel-Enthusiasten
zählen dagegen nach Hunderten und bleiben mit dem Gegenstand
ihrer Verehrung unter sich. Bachs Brandenburgische Konzerte sind
in aller Munde im Gegensatz zu seinen nicht weniger bedeutenden
Orgelfugen, an denen Fachleute und Liebhaber sich genußvoll
reiben.
Beliebtheit (und Kenntnis) der Orgelmusik und die daraus sich
ergebende berufliche Situation ihrer Interpreten bedingen sich
wechselseitig.
Klavier- und Violin-Solisten können zu Spitzenvertretern im
musikalischen Veranstaltungsgeschäft avancieren. Kaum hingegen
Organisten, woran ihre fachliche Kompetenz nichts ändert.
Ihr Ansehen (und die Rede ist nicht von Sonntagsmorgen-Organisten,
die im übrigen keineswegs zu übergehen sind) entspricht
dem ihrer wunderbaren, in vielen Einzelexemplaren hochberühmten,
aber nicht adäquat eingeschätzten Instrumente: Beide
sind infolgedessen auf Zuneigung und verlässliche Kennerschaft
angewiesen. Ein Blick zurück in das Konzertwesen nach 1945
beweist: Man kennt die Pianisten Edwin Fischer, Walter Gieseking
und Wilhelm Kempff. Wer aber erinnert die Organisten Günther
Ramin, Helmut Walcha, Michael Schneider, Gerd Zacher, Almut Rößler – alle
eminente Orgelspieler und oft ausgewiesene Spezialisten bezüglich
ihrer Repertoirevorlieben?
Geht man hundert Jahre zurück, so stößt man auf
die Generation ehedem hochangesehener, heute kaum noch dem Namen
nach bekannter Konzertorganisten wie Wilhelm Middelschulte, Karl
Straube, Albert Schweitzer, Gerard Bunk. Schweitzer kennt man,
aber als Arzt in Lambarene, nicht als Künstler. Die reiche
westfälische Orgellandschaft, in der der Holländer Bunk
wirkte und Middelschulte aufwuchs, verlockte Max Reger und den
Leipziger Thomaskantor Straube, zu Orgeln anzureisen, auf denen
sie konzertierten.
Middelschulte (1863–1943) wurde ein hochangesehener, in Berlin
tätiger Orgelvirtuose und gesuchter Lehrer. Amerikanische
Schüler (und die Liebe zu einer Schülerin, die er heiratete) überzeugten
ihn, in den USA eine Orgel-Konzertkultur zu etablieren, was er über
Jahrzehnte erfolgreich tun konnte. In Chicago lernte er den aus
Erfurt stammenden Musiktheoretiker Bernhard Ziehn kennen, bei dem
er erneut Kontrapunkt studierte. An Ziehns und Middelschultes kompromißloser
musikalischer Arbeit begeisterte sich 1910 Ferruccio Busoni und
feierte sie mit seinem Aufsatz „Die “Gotiker” von
Chicago, Illinois“, der in einem deutschen Fachblatt erschien
und auf diese Weise bleibend in die Literatur eingegangen ist.
Ohne ihn würde man von Wilhelm Middelschulte vielleicht nie
gehört und ihn nicht im Gedächtnis behalten haben. Organisten
haben sich Middelschul-tes eigener Musik – er komponierte
aktiv für sein Instrument – in der näheren Vergangenheit
sporadisch, aber im ganzen beständig angenommen. In einer
inzwischen auf vier CD-Alben angewachsenen (offenbar leider vorzeitig
auslaufenden) Edition des Labels cpo tut dies seit 2000 der Organist
Jürgen Sonnentheil. Mit Hans-Dieter Meyer, der für drei
der CD-Alben fachlich hochstehende, dabei gut lesbare Booklet-Texte
verfaßt hat, wird er außerdem im Bärenreiter-Verlag
eine Middelschulte-Werkausgabe veröffentlichen, deren erster
Band im Januar 2007 erschienen ist.
Middelschultes kompositorisches Œuvre kreist um das nahezu
mythische Zauberwort Kontrapunkt und damit – wie könnte
es anders sein? – um Johann Sebastian Bach. Auf dessen thematischem
Material basieren seine Originalwerke, wenn er nicht Bach’sche
Originale auf die Orgel übertragen hat wie die Violin-Chaconne
oder die d-Moll-Orgeltoccata in einer Fassung für Orgel und
Klavier. Middelschultes Opus summum in dieser Abteilung sind Bachs
Goldberg-Variationen, die Sonnentheil so virtuos wie vertieft spielt.
Er berücksichtigt alle Wiederholungen, weil er beim jeweils
zweiten Durchgang Stimm- und Verzierungsergänzungen, dynamische
Modifikationen und anderes mehr, das Middelschulte nur in seinem
Handexemplar notiert hat, anbringt und dadurch die Klangpalette
fantasievoll bereichern kann.
Der zweite Höhepunkt in Middelschultes Bearbeitungsschaffen
ist Busonis Fantasia Contrappuntistica. Quasi unter den Augen Middelschultes
hat der Komponist sie in Chicago abgeschlossen und dem „Gotiker“ aus
Westfalen gewidmet. Busonis gipfelstürmendes Werk, von ihm
selbst durchaus als ein solches gesehen, wirkt in Middelschultes
Orgelfassung kontrastvoller, vielschichtiger und in mancher Hinsicht
reicher noch als in der originalen Version für zwei Klaviere.
Das von Busoni intendierte klingende Mysterium des Kontrapunkts
realisiert sich in Middelschultes Transkription als um eine sinntragende
Dimension bereichert, ohne den zweifellos mitspielenden Reiz erhöhter
Substanz-Verdichtung zu strapazieren.
Die Finderfreude und Anregungsfülle, welche die vier CD-Alben
spenden, regen zu sorgfältigen Hörstudien an. Sonnentheils
Darstellungen, welche die dankbar aufzunehmende Voraussetzung dafür
bieten, werden präsentiert auf Orgeln in Cuxhaven, Friedrichshafen
und Hildesheim, auf großmächtigen und in diesen Aufnahmen
sehr dunkelgrundig klingenden Konzertorgeln aus der Marburger Werkstatt
von Gerald Woehl. Woehl hat viele deutsche Orgeln, oft auf der
Grundlage berühmter Vorgängerinstrumente zum Beispiel
von Arp Schnitger, restituiert und erweitert, aber ebenso Instrumente
neu disponiert und realisiert. Das Klangbild der Sonnentheil-Einspielungen
liefert den realen Raumhall illusionär mit, so dass die jeweilige
Orgel an ihrem Standort authentisch wiedergegeben wird und jeder
Anflug von steriler Studioatmosphäre vermieden ist. Schade,
dass das Middelschulte-Projekt, das sich zugegebenermaßen
an Liebhaber einer ausgesuchten Musikliteratur richtet, offenbar
nicht fortgesetzt werden kann. Die Marktgesetze erweisen sich mal
wieder als stärker denn aller Enthusiasmus und jedes ideelle
Engagement auf Seiten der künstlerischen Initiatoren. Diese
vier Alben bleiben immerhin wichtige, wenn auch Dokumente mit Fragment-Charakter,
Wilhelm Middelschulte zu Ehren.