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nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 45
56. Jahrgang | Juni
Noten
Musik eines Vergessenen
Der Münchener Komponist Johann Kaspar Kerll – neue
Edition
Denkmäler der Tonkunst in Bayern (Neue Folge), Bd. 19: Johann
Kaspar Kerll – Delectus Sacrarum Cantionum (München
1669). Ed. Bettina Eichmanns, Breitkopf & Härtel SON 249,
117 Euro
Er diente am Münchner Hof in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts, war einer der größten Organisten seiner
Zeit, wurde vom Kaiser 1664 geadelt – und doch ist er heute
nur mehr einer kleinen Gemeinde von Künstlern und Kennern
bekannt. Dabei verdient die Musik des Johann Kaspar Kerll, der
1627 im Vogtland geboren und in Wien und Rom ausgebildet wurde,
unbedingt Aufmerksamkeit. Etwa seine geistliche Vokalmusik aus
seiner bedeutendsten Sammlung „Delectus Sacrarum Cantionum“,
die 1669 in München im Druck erschien. Sie besticht mit außerordentlichem
kontrapunktischen Können, mit leuchtenden warmen Klängen
und dem raffinierten Wechsel intimer solistischer und prächtiger
chorischer Abschnitte, exemplarisch verwirklicht in der „Cantate
laudes Mariae“, einem marianischen Lobgesang in allen erdenklichen
Stimmkombinationen. Oder auch die Motette „Exultate corda
devota“ belegt Kerlls hohe Vokalkunst aufs eindrücklichste:
Hier wetteifern zwei Soprane, Tenor und Continuobegleitung um die
Gunst des Hörers, und nachdem von Sopran und Tenor zunächst
in kontemplativer Manier nacheinander die „große Frömmigkeit“ der
Jungfrau Maria gepriesen wurde, vereinen sich alle drei Sänger
zu reich ausgeschmücktem Jubel auf die Gottesmutter.
Johann Kaspar Kerll trat 1656 in den Dienst von Kurfürst Ferdinand
Maria und bescherte als Hofkapellmeister der einst unter Orlando
di Lasso berühmt gewordenen Münchner Hofkapelle eine
neue Blütezeit. Eine Leistung, die umso beeindruckender ist,
als mit Kerll zum ersten Mal ein deutscher Musiker das musikalische
Sagen am Münchner Hof hatte, der bis dato unter italienischem
Einfluss stand. Doch Intrigen italienischer Musiker waren es dann
höchstwahrscheinlich, die ihn 1673 bewogen, sein Münchner
Amt und damit die Leitung der Gottesdienste, der Kammer- und Tafelmusik
wie auch der Hofoper aufzugeben. Kerll zog es zurück nach
Wien, wo seine musikalische Karriere einst begonnen hatte, und
diente dort ab 1677 als erster Hoforganist. Sein neues Amt hielt
ihn aber nicht von zahlreichen Besuchen in München ab, wo
er 1693 starb. Zu Lebzeiten besonders geschätzt wurden neben
der geistlichen Vokalmusik seine insgesamt elf Opern – frühe
Beiträge zur Geschichte der deutschen Oper, die leider alle
verschollen sind. Zusätzlich erschwert wird eine angemessene
Würdigung und Einschätzung Kerlls durch den Mangel an
Werkausgaben. In der Reihe „Denkmäler der Tonkunst in
Bayern“, veröffentlicht von der „Gesellschaft
für Bayerische Musikgeschichte“ unter der Editionsleitung
von Stefan Hörner, ist nun als Band 19 eine vorzügliche
Edition seines lange Zeit verschollen geglaubten Motettenzyklus „Delectus
Sacrarum Cantionum“ erschienen, für die die junge Musikwissenschaftlerin
Bettina Eichmanns verantwortlich zeichnet. In ihrer modernen Ausgabe – also
mit Vorzeichen, die nach modernem Gebrauch gesetzt sind, mit Balken
statt der originalen Fähnchen bei Achtel- und Sechzehntelnoten – wird
erstmals die große Besetzungsvielfalt dieser vokalen Ensemblemusik
ersichtlich: Die insgesamt 26 Werke, die formal mitunter an die „Kleinen
geistlichen Konzerte“ von Heinrich Schütz erinnern,
schöpfen systematisch alle Stimmkombinationen von zwei Cantus
bis vier Bässe aus, einige verlangen sogar zwei konzertierende
Violinen. Vor allem aber machen diese lange Zeit verschwundenen
Geistlichen Konzerte – wiedergefunden wurde der Druck von
1669 von Martin Zöbeley in Krakau – mit ihrer charakteristischen
Synthese von stilistischer Vielfalt, kunstvoller Kontrapunktik
und virtuosem Konzertieren bewusst, welch begnadeter Komponist
Johann Kaspar Kerll wirklich war. Damit schließt diese Edition
eine wichtige Repertoirelücke und verhilft einem verkannten
Meister zu neuer Wertschätzung, nicht zuletzt auch dank einer
kenntnisreichen, engagiert geschriebenen Einleitung Bettina Eichmanns.
So bleibt dieser wunderbaren Vokalmusik nur zu wünschen, dass
sie viele gelungene Aufführungen erleben möge, wie zuletzt
vergangenen Herbst bei der „Residenzwoche München“ durch
die von Christoph Hammer geleitete „Neue Hofkapelle München“ im
Antiquarium.